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Vertragsfreiheit

Parteiautonomie.

1. Begriff: Verfassungsrechtlich geschützter Grundsatz für Schuldverträge, also auch für Versicherungsverträge. Die Vertragsparteien entscheiden frei über den Abschluss und die Aufhebung von Verträgen (Abschluss- und Auflösungsfreiheit), über deren Inhalt (Inhaltsfreiheit), ohne an Formvorschriften gebunden zu sein (Formfreiheit). Für Versicherungsverträge bestehen allerdings erhebliche Einschränkungen der Vertragsfreiheit kraft Gesetzes.

2. Merkmale: a) Abschlussfreiheit: Der Versicherungsnehmer entscheidet, ob er überhaupt einen Versicherungsvertrag abschließt und mit welchem Versicherungsunternehmen. Das Versicherungsunternehmen kann den Antrag des Versicherungsnehmers (Versicherungsantrag) annehmen, ggf. mit Modifikationen, oder ablehnen. Im Invitatiomodell fällt der Versicherungsnehmer die Entscheidung über die Annahme oder Ablehnung.
b) Inhaltsfreiheit: Die Gestaltung des Vertragsinhalts obliegt den Parteien, im Versicherungsvertrag dem Versicherungsunternehmen und dem Versicherungsnehmer, insbesondere wenn gesetzliche Vorschriften fehlen, wie bei der Produktgestaltung.
c) Formfreiheit: Gilt auch für Versicherungsverträge, trotz des Textformverlangens für Informationen (§ 7 I S. 1 VVG) und für den Versicherungsschein (§ 3 I VVG). Mündliche bzw. telefonische Vertragsabschlüsse sind daher wirksam.
d) Auflösungsfreiheit: Recht auf eine gemeinschaftliche Aufhebung des bestehenden Versicherungsvertrags ohne Rücksicht auf sonstige Beendigungsgründe (z.B. Kündigungsrechte, Ablauf etc.). Gegenstück (actus contrarius) zur Abschlussfreiheit.

3. Einschränkungen: Die Vertragsfreiheit wird für den Versicherungsvertrag zum Schutz des Versicherungsnehmers oder Dritter, wie z.B. mitversicherter oder geschädigter Personen, erheblich eingeschränkt. a) Abschlussfreiheit: Für den Versicherungsnehmer gilt stattdessen in den Fällen einer gesetzlichen vorgeschriebenen Haftpflichtversicherung (Pflichtversicherung), die in großer Zahl bestehen, eine Abschlusspflicht. Prominentestes Beispiel ist die Kfz-Haftpflichtversicherung. Das Versicherungsvertragsgesetz (VVG) hat ferner mit Wirkung zum 1.1.2009 eine Krankenversicherungspflicht nach dem Basistarif für Personen geschaffen, die der privaten Krankenversicherung (PKV) zugeordnet sind (§ 193 III VVG). Eine Annahmepflicht (Kontrahierungszwang) des Versicherungsunternehmens besteht i.d.R. auch bei Abschlusspflicht des Versicherungsnehmers nicht. Ausnahmen: Kfz-Haftpflichtversicherung und Versicherung nach dem Basistarif in der PKV mit gesetzlich geregelten Ablehnungsgründen (§ 5 IV PflVG; § 193 V S. 4 VVG).
b) Inhaltsfreiheit: Gesetzliche Regelungen schränken die Inhaltsfreiheit in unterschiedlichem Umfang ein. Zu unterscheiden ist hier zwischen zwingenden, halbzwingenden und abänderlichen (dispositiven) Vorschriften. Zwingende Vorschriften sind für beide Seiten unabänderlich, z.B. die Nichtigkeit einer betrügerischen Überversicherung oder Mehrfachversicherung (§§ 74 II 1. Hs., 78 III 1. Hs. VVG). Halbzwingende Vorschriften können nur zugunsten des Versicherungsnehmers verändert werden. Vielfach erfolgt insoweit eine ausdrückliche Anordnung, z.B. in § 32 VVG. Der halbzwingende Charakter kann sich jedoch auch aus dem Schutzzweck zugunsten Dritter (geschädigte Dritte, mitversicherte Personen) ergeben, wie in der Pflichthaftpflichtversicherung (§§ 113 ff. VVG). Von abänderlichen Gesetzesvorschriften darf auch zum Nachteil des Versicherungsnehmers abgewichen werden. Das gilt jedoch nur für Individualvereinbarungen, soweit es sich nicht um vom Versicherungsunternehmen vorformulierte Vertragsbedingungen i.S.v. Allgemeinen Versicherungsbedingungen (AVB) und Klauseln handelt. Hier greift ergänzend die Inhaltskontrolle des AGB-Rechts ein (§§ 307–309 BGB). Bestimmungen in AVB, die den Versicherungsnehmer entgegen den Geboten von Treu und Glauben unangemessen benachteiligen, sind unwirksam (§ 307 I S. 1 BGB). Die Transparenzkontrolle (§ 307 I S. 2 BGB) hat in der Vergangenheit erheblich an Bedeutung gewonnen. Im Rahmen dieser Inhaltskontrolle werden gerade auch dispositive Gesetzesvorschriften als Kontrollmaßstab herangezogen, wie das Regelbeispiel unangemessener Benachteiligung in § 307 II Nr. 1 BGB erkennen lässt. So hat die Rechtsprechung Abweichungen von § 36 VVG – einer abänderlichen Vorschrift, wonach der jeweilige Wohnsitz des Versicherungsnehmers Leistungsort für die Prämienzahlung ist – zum Nachteil des Versicherungsnehmers nicht zugelassen, wie etwa die Verlagerung zum Sitz des Versicherungsunternehmens. Sind dagegen dispositive Gesetzesvorschriften als Vergleichsmaßstab für AVB überhaupt nicht vorhanden, kommt das zweite Regelbeispiel für die Unangemessenheit zum Zuge, die Vertragszweckgefährdung (§ 307 II Nr. 2 BGB). Diese Variante wirkt sich insbesondere bei der Produktgestaltung mit Hilfe der AVB aus, konkret bei der Risikobeschreibung und den Ausschlusstatbeständen. Die Inhaltskontrolle des AGB-Rechts wird darüber hinaus in den Bereichen relevant, in denen die Beschränkungen der Vertragsfreiheit nach dem VVG keine Anwendung finden. Das ist bei Großrisiken (§ 210 II VVG) und in der laufenden Versicherung (§§ 53–58 VVG) der Fall (§ 210 I VVG). Die Rechtsprechung hat z.B. das Verschuldens- und das Kausalitätsprinzip bei Obliegenheitsverletzungen zu den wesentlichen Grundgedanken der gesetzlichen Regelungen im VVG gezählt. Nachteilige Abweichungen in AVB zulasten des Versicherungsnehmers sind daher auch in diesen Bereichen unwirksam (§ 307 II Nr. 1 BGB).
c) Formfreiheit: Die Formfreiheit unterliegt keinen Einschränkungen. Die Übermittlung des Versicherungsscheins (§ 3 I VVG) bildet eine Nebenpflicht aus dem Versicherungsvertrag, der anderweitig bereits geschlossen ist oder mit der Übermittlung zustande kommt. Die Verletzung der Pflicht zur rechtzeitigen Information des Versicherungsnehmers (§ 7 I S. 1 VVG) hindert nicht den wirksamen Vertragsabschluss. Der Zugang des Versicherungsscheins und sämtlicher Informationen nach §§ 7 I und II VVG sind (nur) Voraussetzungen für den Beginn der Widerrufsfrist (§ 8 II S. 1 Nr. 1 VVG). Ohne (beweisbare) Übermittlung muss jedoch die Einbeziehung von AVB in den Vertrag gesondert begründet werden.
d) Auflösungsfreiheit: Die Auflösungsfreiheit unterliegt ebenfalls keinen Einschränkungen. Das gilt auch für Pflichtversicherungen und sogar für solche, in denen eine Annahmepflicht des Versicherungsunternehmens besteht. Eine Kfz-Haftpflichtversicherung und eine PKV im Basistarif können daher durch gemeinsamen Aufhebungsvertrag beendet werden; schließlich bleibt der Versicherungsnehmer auch bei Pflichtversicherungen zur Kündigung berechtigt. Seiner Pflicht zum Abschluss eines entsprechenden Versicherungsvertrags muss der Versicherungsnehmer dann anderweitig nachkommen, z.B. bei einem anderen Versicherungsunternehmen.

Autor(en): Prof. Dr. Roland Michael Beckmann, Professor Dr. Helmut Schirmer

 

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