Invitatiomodell
1. Begriff: Verfahrensvariante beim Abschluss eines Versicherungsvertrags, die im Zuge der VVG-Reform von der Versicherungswirtschaft als Alternative zum Antragsmodell entwickelt wurde. Beim Invitatiomodell wird der Versicherungsantrag vom Versicherungsunternehmen gestellt, die Annahme erfolgt durch den Versicherungsnehmer. Das Antragsverfahren wird also umgekehrt; es findet ein Rollentausch zwischen dem Versicherungsunternehmen und dem Versicherungsnehmer statt.
2. Ablauf: a) Klärung des Versicherungsbedarfs: Beratungsgespräch zwischen dem Versicherungsnehmer bzw. Versicherungsinteressenten und dem Versicherungsvermittler, Ausfüllung von Formularen im Vertriebsprozess.
b) Anfrage beim Versicherungsunternehmen: Kein bindender Antrag des Versicherungsnehmers, sondern Aufforderung zur Abgabe eines Angebots seitens des Versicherungsunternehmens. Inhalt der Anfrage: Produktgestaltung und Versicherungsbedingungen, Tarif, Prämie, Beginn und Ende der Versicherungsdauer, Zahlungsweise etc., Antworten auf Risikofragen.
c) Antrag des Versicherungsunternehmens: Antragstellung nach Risikoprüfung gemäß den „Annahmerichtlinien“ des Versicherungsunternehmens, zugleich Übermittlung sämtlicher Informationen. Die Antragstellung in Form eines Versicherungsscheins ist möglich (Angebotspolice), dann ist aber eine deutliche Klarstellung der Annahmebedürftigkeit gegenüber dem Versicherungsnehmer notwendig. Der Antrag des Versicherungsunternehmens kann Annahmefristen für den Versicherungsnehmer enthalten. An der Rechtzeitigkeit der Informationen ist auch bei kürzeren Annahmefristen nicht zu zweifeln.
d) Annahme durch den Versicherungsnehmer: Ausdrücklich z.B. durch Rücksendung einer vorbereiteten Annahmeerklärung, konkludent durch aktive Prämienzahlung seitens des Versicherungsnehmers (Barzahlung, Überweisung; nicht Duldung einer Lastschrift). Bei fehlender Reaktion von Seiten des Versicherungsnehmers ist eine Nachbearbeitung notwendig.
e) Übersendung des Versicherungsscheins, evtl. Bestätigung der Annahme.
3. Verhältnisse in der Praxis: Das Antragsmodell beherrscht die Praxis: Der Versicherungsnehmer (Kunde, Versicherungsinteressent) stellt den Versicherungsantrag, den das Versicherungsunternehmen nach einer Risikoprüfung annimmt. Das neue VVG geht auch erkennbar vom Antragsmodell aus (§§ 5, 8 II, 19 I S. 2, 33 VVG), ohne dass daraus eine Sperrwirkung gegenüber anderen Vertragsabschlussverfahren herzuleiten wäre. Vor der VVG-Reform herrschte das Policenmodell vor (Widerspruchsverfahren: § 5a VVG a.F.). Es ermöglichte die Übermittlung der Verbraucherinformationen und der Allgemeinen Versicherungsbedingungen (AVB) erst mit dem Versicherungsschein, nicht schon vor bzw. bei Antragstellung des Versicherungsnehmers, wie nach dem Antragsmodell. Das neue VVG hat aber das Policenmodell nicht fortgeführt und gleichzeitig eine „rechtzeitige Information des Versicherungsnehmers vor Abgabe seiner Vertragserklärung“ (§ 7 I S. 1 VVG) vorgeschrieben. Da über den auslegungsbedürftigen Begriff der „Rechtzeitigkeit“ im Antragsmodell keine vollständige Klarheit herrscht, soll das Invitatiomodell Abhilfe bringen. Eine Antragstellung von Seiten des Versicherungsunternehmens gab es zwar schon immer. Folgende Fälle sind zu nennen: a) Einholung von Angeboten durch den Versicherungsmakler als originäre Antragstellung seitens des Versicherungsunternehmens;
b) Fernabsatz außerhalb des Internets;
c) verspätete Annahme, die als neuer Antrag seitens des Versicherungsunternehmens zu werten ist. Für eine weitergehende oder regelmäßige Anwendung des Invitatiomodells nach der VVG-Reform werden allerdings Anpassungen gesetzlicher Vorschriften notwendig. Praktische Bedeutung hat das Invitatiomodell v.a. bei Einschaltung eines Versicherungsmaklers als Stellvertreter des Versicherungsnehmers.
4. Anpassungen gesetzlicher Vorschriften: a) Kenntnis des Versicherungsnehmers vom Versicherungsfall. § 2 II S. 2 VVG geht bei der Rückwärtsversicherung vom Antrag des Versicherungsnehmers aus, der der Annahme des Versicherungsunternehmens vorausgeht. Nach dem Invitatiomodell wird aber umgekehrt verfahren. Deshalb wird vertreten, dass beim Invitatiomodell für die Kenntnis vom Eintritt des Versicherungsfalls im Rahmen von § 2 II S. 2 VVG auf die Anfrage des Versicherungsnehmers als maßgeblichen Zeitpunkt abzustellen sei, jedenfalls wenn er seine Angebotsanfrage auf eine Rückwärtsversicherung abziele (indes strittig).
b) Abweichungen zwischen Anfrage und Angebot. Keine Anwendung von § 5 VVG, der vorschreibt: „Weicht der Inhalt des Versicherungsscheins von dem Antrag des Versicherungsnehmers oder den getroffenen Vereinbarungen ab, gilt die Abweichung als genehmigt, wenn die Voraussetzungen des Absatzes 2 erfüllt sind und der Versicherungsnehmer nicht innerhalb eines Monats nach Zugang des Versicherungsscheins in Textform widerspricht.“ Das Versicherungsunternehmen trifft eine entsprechende Belehrungspflicht.
c) Vorvertragliche Anzeigepflicht. Pflichten zur Angabe von Risikoumständen treffen den Versicherungsnehmer nur bis zur Abgabe seiner Vertragserklärung (= Antrag des Versicherungsnehmers), danach nur auf Nachfrage des Versicherungsunternehmens bis zur Vertragsannahme. Die Regelung nach dem Invitatiomodell ist noch unklar. Eine Schlechterstellung des Versicherungsnehmers ist jedoch nach § 32 VVG unzulässig. Als maßgeblicher Zeitpunkt gilt die Anfrage. Ein Nachfragerecht des Versicherungsunternehmens gilt (nur) bis zu seinem (bindenden) Angebot.
d) Fälligkeit der Erstprämie. Im Fall der Antragstellung in Form eines Versicherungsscheins (Angebotspolice) ist die Erstprämie nicht schon ab Zugang des Versicherungsscheins, sondern erst ab der Vertragsannahme von Seiten des Versicherungsnehmers fällig. Gegenüber dem Antragsmodell ergibt sich keine Änderung, falls der Versicherungsschein erst nach der Vertragsannahme durch den Versicherungsnehmer übermittelt wird.
e) Widerrufsrecht des Versicherungsnehmers. Die Frist beginnt im Fall der Angebotspolice erst mit Zugang der Annahmeerklärung beim Versicherungsunternehmen oder mit der Erkennbarkeit des Annahmeverhaltens seitens des Versicherungsnehmers (Eingang der überwiesenen Prämie). Eine Bestätigung durch das Versicherungsunternehmen hilft insoweit, als dem Versicherungsnehmer ansonsten eine präzise Kenntnis dieses Zeitpunkts fehlt. Die Widerrufsbelehrung ist entsprechend anzupassen. Gegenüber dem Antragsmodell ergeben sich wiederum keine Änderungen, wenn der Versicherungsschein erst nach der Vertragsannahme durch den Versicherungsnehmer übermittelt wird.
Autor(en): Prof. Dr. Roland Michael Beckmann, Professor Dr. Helmut Schirmer