Ausscheidewahrscheinlichkeit
1. Begriff: In der Personenversicherung ganz allgemein die Bezeichnung für die Wahrscheinlichkeit, innerhalb einer bestimmten Zeitspanne die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Personengruppe zu verlieren.
2. Merkmale: Als Personengruppen, für die Ausscheidewahrscheinlichkeiten ermittelt werden, kommen v.a. versicherte Kollektive in der Lebensversicherung und Krankenversicherung sowie in der gesetzlichen bzw. betrieblichen Altersversorgung (bAV) in Betracht. Ausscheidewahrscheinlichkeiten werden üblicherweise in Abhängigkeit von bestimmten personenbezogenen Kriterien, wie Alter bzw. Geburtsjahr, Geschlecht, Familienstand, oder von vertragsbezogenen Kriterien, wie Ausprägungen eines Versicherungs- oder Arbeitsvertrags, oder auch von verhaltensbezogenen Kriterien, wie z.B. dem Rauchverhalten, abhängig gemacht. Die tabellarische Auflistung der Ausscheidewahrscheinlichkeiten in Abhängigkeit von den genannten Kriterien wird als Ausscheideordnung bezeichnet.
3. Modell: Sei K = {k1,…,km} eine Menge von Kriterien, wie Alter bzw. Geburtsjahr, Geschlecht etc., und G(K) eine Gruppe von n Personen, auf die die Kriterien K sämtlich zutreffen. Das Ausscheiden einer bestimmten Person i aus G(K) in einer vorgegebenen Zeitspanne wird als eine Bernoulli-verteilte Zufallsvariable Xi(K) mit dem Ergebnisraum {0,1} aufgefasst, wobei Xi(K) = 1, falls die betreffende Person das Kollektiv verlässt oder Xi(K) = 0, falls die betreffende Person im Kollektiv verbleibt. Unterstellt wird nun, dass die Xi(K) unabhängig und identisch verteilt sind. Bezeichnet a(K) die Wahrscheinlichkeit, dass eine bestimmte Person i in der vorgegebenen Zeitspanne das Kollektiv verlässt, so gilt für den Erwartungswert von Xi(K) Folgendes: E[Xi(K)] = a(K). Für das arithmetische Mittel gilt dann nach dem Gesetz der großen Zahl für jedes beliebig kleine ɛ Folgendes: . Die Zufallsvariable beschreibt die relative Häufigkeit, mit der Personen innerhalb einer vorgegebenen Zeitspanne aus dem Grundkollektiv G(K) ausscheiden. Im Gegensatz zu a(K) kann empirisch beobachtet werden. Das Gesetz der großen Zahl besagt, dass für eine beliebig kleine Abweichungstoleranz bei genügend großer Personenzahl n die relative Häufigkeit des Ausscheidens aus (K) mit Wahrscheinlichkeit 1 innerhalb der Abweichungstoleranz liegt. Aus diesem Grund wird in der Versicherungspraxis selten zwischen den in einem Kollektiv beobachteten relativen Häufigkeiten des Ausscheidens und der Ausscheidewahrscheinlichkeiten unterschieden.
4. Ausprägungen: Bekanntestes Beispiel einer Ausscheidewahrscheinlichkeit ist die Sterbewahrscheinlichkeit. Die entsprechende Ausscheideordnung wird auch als Sterbetafel bezeichnet. Daneben spielt die Invalidisierungswahrscheinlichkeit als Basis für die Quantifizierung von Invaliditätsrisiken in der privaten Versicherungswirtschaft wie in der gesetzlichen und betrieblichen Altersversorgung eine herausragende Rolle (siehe auch Invalidentafel).
5. Anwendungszwecke: Ausscheidewahrscheinlichkeiten bzw. Verbleibswahrscheinlichkeiten messen die Eintrittswahrscheinlichkeiten von Ereignissen, die in einem Lebensversicherungsvertrag oder einem anderen (Alters-)Versorgungssystem Leistungsverpflichtungen auslösen bzw. beenden oder Prämienzahlungsverpflichtungen verändern können. Sie bilden daher die statistische Basis für die Prämienkalkulation und die Bewertung von Leistungsverpflichtungen in der Personenversicherung (Nettoprämie, Deckungsrückstellung).
6. Probleme: Ausscheidewahrscheinlichkeiten werden aus Beobachtungen für bestimmte Risikoklassen erhoben. Ihre Anwendung für Zwecke der Versicherungskalkulation setzt voraus, dass diese Risikoklassen möglichst homogen sind und einzelne Personen ihnen eindeutig zugeordnet werden können. Die Homogenitätsbedingung bedeutet, dass es zu einem Kriterienset K={k1,…,kn} möglichst keine Obermenge gibt, so dass sich die Ausscheidewahrscheinlichkeit signifikant von unterscheidet. Ist dies nämlich der Fall, so gibt es in einer Gruppe von Personen G(K), die die Kriterien in K erfüllen, eine Teilgruppe, für die ein bestimmter Versicherungsabschluss entweder signifikant attraktiver oder weniger attraktiv ist. Abgesehen von Pflichtversicherungen können Selektions- oder Antiselektionseffekte (Adverse Selektion) im Versicherungsbestand mit u.U. ruinösen Auswirkungen die Folge sein. Beispiel: Ein Unternehmen, das im Gegensatz zur Marktpraxis bei Todesfallversicherungen (Risikolebensversicherung) nicht die Tarifkriterien Alter, Geschlecht, Rauchverhalten anwendet, sondern bei der Ermittlung der zugrundeliegenden Ausscheidewahrscheinlichkeiten nur nach dem Kriterium Alter differenziert, wird überdurchschnittlich viele männliche Raucher und so gut wie keine weiblichen Nichtraucher anziehen, so dass sich die Kalkulation wahrscheinlich als unzureichend erweisen wird.
7. Anmerkung zur Geschlechterdifferenzierung: Eine Preisdifferenzierung nach dem Geschlecht ist in der Europäischen Union verboten. Dennoch werden Ausscheideordnungen i.d.R. geschlechtsspezifisch entwickelt. Eine entsprechende Differenzierung ist bei der Preisgestaltung und Reservierung noch insofern relevant, als Annahmen über den Geschlechtermix der künftigen Käufer eines Produkts zu treffen sind, deren Angemessenheit im Hinblick auf die tatsächliche Zusammensetzung eines Kollektivs im Zeitablauf zu überprüfen und evtl. für die Berechnung der Deckungsrückstellung anzupassen ist.
8. Ähnliche Begriffe: Ausscheidewahrscheinlichkeiten werden häufig Ereignissen zugeordnet, die innerhalb einer größeren Personengesamtheit den Wechsel zwischen zwei Teilkollektiven beschreiben. Bspw. beschreibt die Invalidisierungswahrscheinlichkeit das Risiko eines Übergangs aus dem Kreis aktiver Personen mit Anspruch auf Altersversorgung in das Kollektiv der Invalidenrentner, die jedoch im Regelfall ebenfalls eine Altersversorgung erwarten können, so dass dieser Wechsel nicht zwingend mit einem Ausscheiden aus der Gesamtgruppe der Versorgungsberechtigten gleichzusetzen ist. Um zu verdeutlichen, dass eine bestimmte Ausscheideursache für ein Teilkollektiv nicht zwingend zum Ausscheiden aus einem größeren Gesamtkollektiv führt, wird in diesen Fällen auch von Übergangswahrscheinlichkeiten gesprochen. Bezeichnet a(t) die Wahrscheinlichkeit, innerhalb einer vorgegebenen Zeitspanne [t, t+1] aus einem Kollektiv auszuscheiden, so ist die Wahrscheinlichkeit, vom Zeitpunkt 0 bis zum Zeitpunkt t im Kollektiv zu verbleiben, die sog. „Verbleibswahrscheinlichkeit“.
Autor(en): Norbert Heinen