Pflegebegutachtung
1. Begriff: Begutachtung in der sozialen Pflegeversicherung zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit und Einordnung in Pflegestufen bzw. Pflegegrade nach dem SGB XI. Gegenstand des Gutachtens sind zudem Feststellungen zum Vorliegen einer erheblich eingeschränkten Alltagskompetenz und zur Eignung, Notwendigkeit und Zumutbarkeit von Maßnahmen zur Beseitigung, Minderung oder Verhütung einer Verschlimmerung der Pflegebedürftigkeit einschl. der Leistungen zur medizinischen Rehabilitation. Siehe auch Pflegegutachten.
2. Durchführung der Begutachtung: a) Die gesetzlichen Pflegekassen entscheiden auf der Grundlage von Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK), ob Pflegebedürftigkeit vorliegt und welche Pflegestufe gilt.
b) Die Pflegebegutachtung in der privaten Pflegepflichtversicherung führt die MEDICPROOF GmbH durch. Sie ist ein Tochterunternehmen des Verbands der Privaten Krankenversicherung e.V. mit Sitz in Köln und prüft das Bestehen der Leistungsvoraussetzungen für die PKV seit Einführung der Pflegeversicherung 1995. Aufgabe von MEDICPROOF ist es, eine bundesweit und versicherungsübergreifend einheitliche Begutachtung sicherzustellen. Zur Auftragserledigung bedient sich das Unternehmen eines bundesweiten Netzes freiberuflich tätiger Ärzte und Pflegefachkräfte, die in der Ausübung ihrer Tätigkeit selbstständig und weisungsfrei sind. MEDICPROOF koordiniert dabei als unabhängige und neutrale Institution das Pflegebegutachtungsverfahren und sichert deren Qualität. Jenseits der Pflegebegutachtung übernimmt MEDICPROOF für die Privatversicherer auch Aufgaben im Rahmen der Pflegeberatung.
c) Private Versicherungsunternehmen, deren Versicherungsbedingungen für Pflegezusatzversicherungen alternative oder zusätzliche Leistungsvoraussetzungen enthalten (ADL-Punktesystem), wenden eigene Begutachtungsverfahren an. Die Begutachtung durch den behandelnden Facharzt ist i.d.R. zunächst ausreichend. Eine Prüfung durch einen medizinischen Gutachter oder einen vom privaten Versicherer beauftragten Arzt ist jedoch auch möglich. Sind die Leistungsvoraussetzungen der Pflegezusatzversicherung an die Regelungen der GPV angelehnt, so werden i.d.R. die Gutachten des MDK bzw. der Medicproof GmbH akzeptiert.
3. Rechtsgrundlagen und rechtliche Einordnung: MEDICPROOF-Gutachten sind nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts Schiedsgutachten nach § 84 VVG (Az. B 3 P 4/01 R). Das lässt sich wie folgt herleiten: § 84 VVG ist gem. § 194 I S. 1 VVG auch auf die private Pflegepflichtversicherung anzuwenden, weil sie nach § 192 VI VVG eine Pflegekrankenversicherung ist und Versicherungsschutz nach den Grundsätzen der Schadensversicherung gewährt. Die Durchführung eines Sachverständigenverfahrens i.S.d. § 84 VVG wird gem. § 1 IX i.V.m. § 4 XVI S. 3 Alt. 2 S. 4 MB/PPV zwischen Versicherungsnehmer und Versicherer verbindlich vereinbart. Danach beginnt der Versicherungsfall mit der Feststellung der Pflegebedürftigkeit bzw. der erheblich eingeschränkten Alltagskompetenz durch einen vom Versicherer beauftragten Arzt oder durch MEDICPROOF. Die Feststellungen dieses Sachverständigen sind die Grundlage für die Entscheidung des Versicherers, ob der Versicherungsfall eingetreten ist, welche Pflegestufe vorliegt und welche Leistungen demgemäß zugesagt werden. Dies entspricht auch dem Vorgehen der Pflegekassen. Beim Bundessozialgericht ist ein Verfahren (B 3 P 8/13 R) zum Umfang der Bindungswirkung der MEDICPROOF-Gutachten anhängig, das möglicherweise zu einer Abkehr von dieser ständigen Rechtsprechung führen könnte. Nach § 23 VI Nr. 1 SGB XI sind die privaten Versicherungsunternehmen, die die private Pflegepflichtversicherung betreiben, verpflichtet, für die Feststellung der Pflegebedürftigkeit sowie für die Zuordnung zu einer Pflegestufe dieselben Maßstäbe wie in der sozialen Pflegeversicherung anzulegen. Die Einholung des MEDICPROOF-Gutachtens stellt dies sicher, weil die Gutachter der MEDICPROOF entsprechend geschult sind, so dass bei ihrer Begutachtung die in §§ 14, 15 und 18 SGB XI genannten Voraussetzungen für die Pflegebedürftigkeit und deren Feststellung gewahrt werden. Durch eine Qualitätskontrolle, der die MEDICPROOF-Gutachten durch die MEDICPROOF unterzogen werden, wird dies zusätzlich abgesichert.
4. Einspruch des Versicherten: Beide Vertragsparteien müssen die Feststellungen des Gutachtens gegen sich gelten lassen, es sei denn, sie weichen offenbar von der wirklichen Sachlage erheblich ab (§ 84 I S. 1 VVG). Versicherte der privaten Pflegepflichtversicherung haben nach dem Gesetz im Gegensatz zu Versicherten der sozialen Pflegeversicherung kein Widerspruchsrecht. Sie müssten ihre Einwendungen gegen die Feststellungen des Gutachtens mit einer Klage geltend machen. In der Praxis wird vom Versicherer ein Zweitgutachten bei der MEDICPROOF in Auftrag gegeben, wenn ein Versicherter Einwände gegen die im Gutachten getroffenen Feststellungen erhebt. Die Verbindlichkeit des Erstgutachtens wird in dem Fall einvernehmlich aufgehoben. Dadurch kommt der Versicherte schnell zu einer endgültigen Entscheidung und es werden langwierige Klageverfahren vermieden.
5. Wirkung der Leistungszusage: Die Leistungszusage des Versicherers stellt nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ein grundsätzlich unwiderrufliches deklaratorisches Schuldanerkenntnis dar (Az. B 3 P 21/00 R). Liegt dem Gutachten z.B. ein Irrtum zugrunde, der zugunsten des Versicherten wirkt, kann sich das Versicherungsunternehmen nicht von der Leistungszusage lösen. Ein Widerruf der Leistungszusage ist erst möglich, wenn in einem Wiederholungsgutachten die Änderung des Pflegebedarfs festgestellt wird.
Autor(en): Dr. Frank Schulze Ehring