Der Erwerb von Staatsanleihen durch die Europäische Zentralbank (EZB) verstößt teilweise gegen das Grundgesetz, entschied das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. Die Bundesverfassungsrichter fordern vom EZB-Rat darzulegen, dass der Aufkauf von Staatsanleihen durch das Public Sector Purchase Programme verhältnismäßig ist.
Bundesregierung und Bundestag haben die EZB-Beschlüsse nicht geprüft. Mit dieser Begründung gab das Bundesverfassungsgericht den Beschwerdeführern mehrerer Verfassungsbeschwerden teilweise Recht. Bei diesen handelt es sich laut Medienberichten um den früheren CSU-Politiker Peter Gauweiler und AfD-Gründer Bernd Lucke. Das Urteil untersagt der Bundesbank nach einer Übergangsfrist von höchstens drei Monaten die Mitwirkung an der Umsetzung des EZB-Anleihekaufprogramms "Public Sector Purchase Programme" (PSPP), wenn nicht innerhalb dieser Zeit der EZB-Rat nachvollziehbar darlegt, dass das Programm verhältnismäßig ist.
EZB muss Verhältnismäßigkeitsprüfung vornehmen
Das Urteil verpflichte die Bundesregierung und den Deutschen Bundestag aufgrund ihrer Integrationsverantwortung, der bisherigen Handhabung der PSPP entgegenzutreten, heißt es in der Urteilsbegründung. Zudem habe das Verfassungsgericht erklärt, dass ein im Dezember 2018 vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) ergangenes Urteil zum Kaufprogramm der EZB willkürlich und damit für die Karlsruher Entscheidung nicht bindend sei, heißt es in den Berichten. Der EuGH hatte das EZB-Programm seinerzeit in allen Punkten gebilligt.
Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle erklärte allerdings, die Entscheidung wirke angesichts der Corona-Krise auf den ersten Blick möglicherweise "irritierend". Allerdings wolle das Gericht der EZB keine Handlungsmöglichkeiten "von vornherein aus der Hand schlagen". Dennoch müsse die Notenbank eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vornehmen und entsprechend dokumentieren.
Auswirkungen auf Europa
Der ehemalige Verfassungsrichter Udo di Fabio sieht in der Entscheidung dennoch eine große Bedeutung für Europa. "Das EZB-Urteil schreibt Rechtsgeschichte. Zum ersten Mal hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass ein Rechtsakt des Unionsrechts in Deutschland nicht gilt", erläuterte di Fabio gegenüber dem Wirtschaftsmagazin "Capital". Das könnte dem Verfassungsrechtler zufolge eine Signalwirkung und mögliche Konsequenzen für die EU nach sich ziehen. "Für viele, die sich Sorgen um die Einheit Europas machen, ist das keine gute Nachricht, weil dieses Vorgehen in anderen Ländern Schule machen könnte", so di Fabio.
"Das Bundesverfassungsgericht hat das Kernprogramm des Kaufprogramms PSPP richtig identifiziert. Die EZB und der Europäische Gerichtshof haben es sich in der Entscheidung zu leicht gemacht", kommentiert Friedrich Heinemann, Professor und Leiter des Forschungsbereichs Unternehmensbesteuerung und Öffentliche Finanzwirtschaft am ZEW Mannheim das Urteil. Negative Rückwirkungen wie die wachsende Abhängigkeit von der Politik hoch verschuldeter Mitgliedstaaten oder das Entstehen von Zombie-Unternehmen seien einfach zur Seite gewischt worden. "Das Urteil stärkt nun die Kritiker im EZB-Rat. Die Bundesbank hat sogar den Auftrag, langfristig auf eine Rückführung der Bestände von Staatsanleihen hinzuwirken", so Heinemann.
Transparenz als Ausweg
Dass die Anleihekäufe durch das aktuelle Urteil gefährdet sind, glaubt Commerzbank-Chefvolkswirt Jörg Krämer dagegen nicht. Die EZB verfüge über ausreichend Spezialisten, um die geforderte Prüfung vorzunehmen. "Die Anleihenkäufe der EZB werden weitergehen", zitiert ihn der Nachrichtensender "ntv".
Für den Chefvolkswirt der Landesbank Baden-Württemberg (LBBW) könne der Ausweg für die EZB darin bestehen, dass sie ihre Beschlüsse gegenüber der Marktöffentlichkeit und den Richtern nochmals darlegt. Uwe Burkert erklärte laut Medienberichten, dass es im Moment nur schwer vorstellbar sei, dass die Verfassungsrichter der Bundesbank und womöglich sogar der EZB aus Karlsruhe tatsächlich derart ins Steuerrad greifen.
Autor(en): Angelika Breinich-Schilly