Die gesetzlichen Krankenkassen stehen unter einem hohen Veränderungsdruck. Ihnen stellt sich wie vielen Industrieunternehmen die Frage: Können wir die Zukunft alleine meistern? Und wenn ja, wie können wir den Veränderungsbedarf bewältigen?
Die gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) stehen nicht nur aufgrund steigender Anforderungen der Politik, sondern auch wegen folgender Trends unter einem hohen Veränderungsdruck:
- Demografie: Immer weniger gesunde Versicherte finanzieren immer mehr kranke Beitragszahler.
- Medizinischer Fortschritt: Diagnostik und Therapie werden ausgebaut und kommen zu den bisherigen Leistungen hinzu.
- Finanzierung: Die Einnahmen sind an die Grundlohnentwicklung gebunden; die Leistungsausgaben steigen jedoch in stärkerem Maße. Hinzu kommt die politisch gewollte Übernahme versicherungsfremder Leistungen.
- Digitale Transformation: Es gibt zwar viele Leuchtturmprojekte im IT-Bereich, benötigt wird aber eine alle Akteure im Gesundheitswesen umfassende Telematik-Infrastruktur, unter anderem um den „Kundenwunsch“ elektronische Patientenakte (E-PA) und elektronisches Rezept (E-Rezept) zu erfüllen.
- Wettbewerb: Internationale Konzerne drängen mit digitalen Gesundheitsprodukten auf den Markt. Die Gefahr besteht, dass die deutschen Krankenkassen zum Zahlmeister werden und als Akteure im Gesundheitsmanagement für ihre Versicherten zunehmend an Bedeutung verlieren.
Kleine Kassen konkurrieren mit großen
Seit 1970 sank die Zahl der gesetzlichen Krankenkassen in Deutschland von 1.815 auf 102. Sie wird weiter sinken, denn kleinere Kassen können ohne Kooperationen zum Beispiel die Herausforderungen im Bereich Digitalisierung nur noch schwer meistern. Und zwar aus finanziellen Gründen und weil ihre Kompetenz primär in Sozialversicherungsfachthemen sowie individualisierten Kundenbetreuungskonzepten und weniger in technologischen Themen liegt, die sich aus solchen Anforderungen wie Automatisierung und Bereitstellung digitaler Plattformen ergeben.
Die mittelständischen Kassen hingegen mit bis zu einer Million Kunden haben in der Regel gut ausgestattete IT-Abteilungen und nutzen häufig die Vorteile, die sich aus der Kooperation mit anderen Kassen ergeben. Klassische Kooperationsfelder im Versorgungswettbewerb sind
- das Entwickeln und Umsetzen von Versorgungsprogrammen,
- die Suche nach Effizienzvorteilen in Form von Benchmarking und
- ein Bündeln der Nachfrage und die Nutzung von Skaleneffekten.
Diese bilden oft die Basis für eine weitergehende Zusammenarbeit.
Sich im Wettbewerb mit „Konzernen“ behaupten
Große Kassen mit konzernartigen Strukturen und über vier Millionen Kunden sind in der Regel systemrelevant. Diese Strukturvorteile gilt es allerdings erst einmal zu heben. Hier haben mittelgroße Kassen Vorteile, weil sie flexibel am Markt agieren und gezielt Kooperationen eingehen können.
Im Verdrängungswettbewerb müssen vor allem die kleinen und mittelständischen Kassen ihre Stärken und Schwächen ausbalancieren. Sonst besteht die Gefahr, dass sie in eine Abwärtsspirale geraten (siehe Grafik unten).
Um dies zu vermeiden, gilt es zunächst die eigene Situation zu analysieren: Welche Chancen haben wir mittel- und langfristig, uns aus eigener Kraft am Markt zu behaupten?
Als Mittelständler eigenständig bleiben
Zeigt sich dabei, dass eine selbständige Weiterführung des Unternehmens angezeigt ist, steht der Vorstand vor der Aufgabe, einen umfassenden Transformationsprozess einzuleiten: Marketing, interne Kommunikation, Strukturen und Prozesse müssen nahezu gleichzeitig angegangen werden. Kooperationspartner und -konzepte müssen gefunden werden, die den Transformationsprozess wirksam unterstützen.
Bei der Steuerung des Transformationsprozesses bieten Change-Management-Methoden eine wirksame Unterstützung. Mit Hilfe des „Strategie-Struktur-Kultur-Dreiecks“ für Change- und Transformationsprozesse (siehe Grafik unten), kann das Streben nach einer starken Wettbewerbsposition ganzheitlich angegangen werden. Für Krankenkassen ist das Handlungsfeld Effizienz von zentraler Bedeutung, denn ihre Zukunft hängt wesentlich davon ab, ob es ihnen gelingt, eine ausgeglichene Bilanz zwischen den Leistungsausgaben und Verwaltungskosten sowie den Zuweisungen aus dem Gesundheitsfond zu erzielen. Von Bedeutung ist hier neben einer Kundenzentrierung eine am Versorgungsmanagement orientierte Unternehmensstrategie.
Den Transformationsprozess meistern
Die Umsetzung einer solchen Strategie erfordert von den Mitarbeitenden
- ein Verständnis der strategischen Ziele,
- eine hohe Motivation, sich hierfür zu engagieren, sowie
- die erforderlichen Fähigkeiten.
Damit ist zugleich die kulturelle Dimension des Transformations-Dreiecks angesprochen. Sie verweist darauf, dass das Erreichen anspruchsvoller strategischer Ziele stets eine leistungsorientierte Kultur der Zusammenarbeit voraussetzt.
Insbesondere die Aufgabe, das Leistungsprogramm der GKV in die digitale Zukunft zu überführen, bedarf fundamentaler digitaler Kompetenzen. Deshalb ist eine an der Strategie des Unternehmens ausgerichtete Qualifizierung der Mitarbeitenden ein entscheidender Erfolgsfaktor. Gefragt ist zudem ein kundenorientiertes, bereichsübergreifendes Denken.
In der Vergangenheit waren viele Probleme der gesetzlichen Krankenkassen mit Finanzmitteln lösbar. In Zukunft werden aber die personellen Ressourcen der eigentliche Engpass sein. Deshalb müssen künftige Lösungsansätze die drei Dimensionen
- Qualifikation und Engagement der Mitarbeitenden,
- Digitalisierung und Automatisierung und
- Substitution in der Arbeitswelt umfassen.
Hintergrundinformationen zu den Autoren
Peter Kaetsch ist Vorstandsvorsitzender der Bundesinnungskrankenkasse Gesundheit, Dortmund, kurz: BIG direkt gesund, die 1996 als erste Direktkrankenkasse Deutschlands gegründet wurde. Sie hat heute bundesweit über 520.000 Versicherte und beschäftigt über 920 Mitarbeitende.
Alexander Pifczyk ist Seniorberater der Managementberatung Dr. Kraus & Partner, Bruchsal. Er ist auf Change- und Transformationsmanagement-Themen spezialisiert.
Autor(en): Peter Kaetsch, Alexander Pifczyk