Lebensversicherungsmathematik
1. Begriff: Bezeichnung für das seit dem 18. Jahrhundert entwickelte Kalkül, das in der Lebensversicherungswirtschaft für die Prämienkalkulation und die Kalkulation von Reserven eingesetzt wird.
2. Merkmale: Wesentliche Elemente des Lebensversicherungskalküls sind neben den die Art und die Höhe der versicherten Leistungen beschreibenden Parametern a) die Ausscheideordnungen, in denen Ausscheidewahrscheinlichkeiten tabelliert sind, dass einzelne Personen durch eine bestimmte Ursache wie Tod oder Invalidität aus einem Versichertenkollektiv ausscheiden,
b) der Rechnungszins, der die Einschätzung des in Zukunft mindestens zu erzielenden Kapitalanlageerfolgs angibt, und
c) die Kostenparameter für Abschlusskosten, Verwaltungskosten und Inkassokosten.
3. Modell: Mit Hilfe der Ausscheideordnungen und des Rechnungszinses werden Barwerte der versicherten Leistungen (bzw. der kalkulierten Kosten) und der voraussichtlichen Prämieneinnahmen gebildet. Für die Prämienkalkulation wird dabei das versicherungstechnische Äquivalenzprinzip zugrunde gelegt, wonach bei Vertragsabschluss die Barwerte der Versicherungsleistungen und Betriebskosten einerseits und der künftigen Prämieneinnahmen andererseits gleich sein müssen. Die Ausscheideordnungen werden mindestens nach Altersklassen, oft auch nach Geschlecht oder weiteren Merkmalen differenziert, der Rechnungszins wird als eine für die gesamte Zukunft konstante Größe angenommen. (Zur Frage der Geschlechterdifferenzierung siehe auch unter Ausscheidewahrscheinlichkeit.) Die traditionelle Lebensversicherungsmathematik führte komplexere Leistungs- (bzw. Kosten-) und Prämienbarwerte jeweils auf häufig wiederkehrende einfache Größen, sog. Kommutationswerte (Kommutationszahlen) zurück, wie etwa den Barwert einer über eine Zeitstrecke von n Jahren von einem x-Jährigen alljährlich zu erbringende Zahlung von 1 Euro oder den Barwert einer während dieser Zeitdauer im Todesfall zu erbringenden Zahlung von 1 Euro. Diese Kommutationswerte wurden vor der Einführung der elektronischen Datenverarbeitung einmalig gerechnet und tabelliert, um mit Hilfe der Tabellen später auch komplexere Kalkulationen verhältnismäßig zügig durchführen zu können.
4. Ziele: Das traditionelle Lebensversicherungskalkül erlaubt mit vergleichsweise geringem Rechenaufwand die Ermittlung von Versicherungsprämien und Reserven und ermöglicht es daher, mit kontrollierten Sicherheitsmargen Geschäfte mit langfristigen Garantien zu betreiben.
5. Probleme: Mögliche Schwankungen der Ausscheidehäufigkeiten und der Kapitalmarktrendite werden in der traditionellen Lebensversicherungsmathematik nicht explizit adressiert. Vielmehr wird versucht, den Schwankungen der Ausscheidehäufigkeiten und der Volatilität der Kapitalmarktentwicklung dadurch Rechnung zu tragen, dass die verwendeten Wahrscheinlichkeiten und der Kalkulationszins im Vergleich zu „best estimate“-Schätzern in einem je nach Anwendungsgebiet unterschiedlichen Maß zur sicheren Seite verschoben werden. Niedrige Zinsniveaus, volatilere Kapitalanlagen und aufsichtsrechtlicher Druck auf die Lebensversicherer, eine zeitnahe Überschussbeteiligung zu praktizieren, haben etwa seit der letzten Jahrtausendwende die Unzulänglichkeiten der traditionellen Lebensversicherungsmathematik aufgezeigt und diese mehr und mehr stochastischen Methoden geöffnet, wie etwa dem Konzept des Market Consistent Embedded Value (MCEV).
6. Ähnliche Begriffe: Schadenversicherungsmathematik, Pensionsversicherungsmathematik, Krankenversicherungsmathematik.
Autor(en): Norbert Heinen