"Es besteht ein großer Unterschied zwischen dem, was Kunden wollen und dem, was sie brauchen", erläuterte Professor Jochen Ruß, Geschäftsführer der Gesellschaft für Finanz- und Aktuarwissenschaften in Ulm, eine seiner Kernthesen in seinem Vortrag anlässlich der Preisverleihung des Awards Makler-Champions am 27. März 2019 in Bonn.
Nach der klassischen Annahme der Ökonomen treffen Menschen Entscheidungen immer rational, sodass der erwartete Nutzen maximiert wird. Das sei aber mitnichten der Fall, so Ruß. Was man oft vergisst: Die Erwartungsnutzentheorie ist eine normative Theorie. Sie gibt an, wie sich Menschen idealerweise verhalten sollten. Sie eignet sich nur bedingt als deskriptive Theorie, also zur Beschreibung oder Vorhersage, wie sich Menschen tatsächlich verhalten. Dies zeigen Verhaltensmuster, die man bei Menschen immer wieder beobachten könne.
Falsche Anker gesetzt
Ein Beispiel sei die so genannte „Ankerheuristik“. Dies ist ein Begriff aus der Kognitionspsychologie für die Tatsache, dass Menschen bei bewusst gewählten Zahlenwerten von momentan vorhandenen Umgebungsinformationen beeinflusst werden, ohne dass ihnen dieser Einfluss bewusst wird. Die Umgebungsinformationen haben Einfluss selbst dann, wenn sie für die Entscheidung eigentlich irrelevant sind. Es handelt sich also um eine Urteilsheuristik, bei der sich das Urteil an einem willkürlichen „Anker“ orientiert. Beispiel: Bei der Frage, wie lange man seine Lebenserwartung schätzt, orientiert man sich an den selbst besuchten Beerdigungen und den erreichten Lebensaltern der Bestatteten. Dieser Anker wird aber oft falsch gesetzt, da die Menschen heute im Schnitt 7,5 Jahre älter werden als ihre Eltern.
Wishful und Magical Thinking
Ein zweites Beispiel erklärte Ruß: Jeder Mensch wünsche sich natürlich, dass er nicht berufsunfähig oder pflegebedürftig werde. Wenn man das dann auch glaubt (oder für sehr wahrscheinlich hält), halte man die entsprechende Versicherung für überflüssig (beziehungsweise für überteuert).
Irrationale Präferenz für Kapitalauszahlung
Es sollte unstrittig sein, dass jeder Mensch, der lebenslange Ausgaben hat, ein lebenslanges Einkommen braucht. Die Absicherung eines lebenslangen Einkommens sollte daher im Zentrum der Ruhestandsplanung stehen. Dennoch ist die Akzeptanz einer lebenslangen Rentenversicherung im Vergleich zu einer einmaligen Kapitalzahlung sehr gering, obwohl sie rational richtig wäre. Ruß nennt hierfür drei Gründe für die geringe Akzeptanz der Verrentung:
- massive und systematische Unterschätzung der eigenen Lebenserwartung,
- Ausblenden des eigentlichen finanziellen Risikos, deutlich länger zu leben als bis zur Lebenserwartung,
- Die Rentenversicherung scheint bei den meisten Menschen nicht in der "mentalen Schublade" Versicherung, sondern in der Schublade "Investment" zu liegen. Sie wird deshalb nach falschen Kriterien beurteilt. Man fragt nicht: Welche Risiken werden damit reduziert? Sondern: Welche Rendite kann ich erzielen?
Autor(en): Bernhard Rudolf