Der 41. Münsterische Versicherungstag schlug einen Bogen vom Versicherungsombudsmann über die Gründung von Versicherungsvereinen durch die Großindustrie und die Versicherungsrechtsgeschichte bis hin zum aktuellen Reformvorhaben der Europäischen Kommission.
Der Versicherungsombudsmann sieht sich als „Seismograf“, der anzeigt, wo es in der Versicherungsbranche Probleme gibt, so Wilhelm Schluckebier beim alljährlichen Treffen der Versicherungsjuristen im Schloss Münster, das wieder unter Leitung der Münsteraner Rechtswissenschaftlerin Professorin Petra Pohlmann stattfand. Der Anspruch sei, Schlichtungsverfahren schnell, fachkundig und für den Kunden kostenfrei durchzuführen.
Klageindustrie treibt Beschwerdegeschehen an
Die Versicherer kostet das durchschnittlich 350 Euro je Streitfall. Im Schnitt dauert die Bearbeitung einer Beschwerde 2,3 Monate. Dabei sind 30 Prozent der Beschwerden über Lebensversicherungen und 45 Prozent der Beschwerden in anderen Sparten für den Kunden erfolgreich. Der Versicherungsombudsmann hob hervor, dass er dabei bis zu 10.000 Euro zulasten des Versicherers verbindliche Entscheidungen treffen kann. „Davon machen wir mit großer Zurückhaltung Gebrauch“, meinte Schluckebier.
Schwerpunkte im Beschwerdegeschehen gibt es in der Lebensversicherung. Dort beobachtet der Versicherungsombudsmann eine regelreche „Klageindustrie“. Den Kunden werde ein „Widerrufsjoker“ nahegelegt, mit dem man alte Lebensversicherungsverträge wegen fehlerhafter Widerrufsbelehrung rückabwickeln lassen könne. Allerdings gebe es eine Reihe Verwirkungsgründe, wenn der Kunde im Lauf der Vertragslaufzeit hat erkennen lassen, dass er den Vertrag tatsächlich genutzt und beispielsweise Dynamikerhöhungen akzeptiert oder den Vertrag für Finanzierungszwecke abgetreten hatte.
Goldene Regel anwenden
Schluckebier wies darauf hin, dass die Europäische Union für mehr Rechtssicherheit sorgen will, allerdings erst einmal nur in Zusammenhang mit Fernabsatzverträgen. Ob das vermeintlich ewige Widerrufsrecht auch bei normalen, im Einzugsbereich der Versicherungsvertriebsrichtlinie IDD vertriebenen Lebensversicherungen wegfallen wird, sei noch unklar.
Probleme gibt es außerdem bei zu hohen Abschlusskosten, bei Differenzen im zugesagten Rückkaufswert, der Anpassung von Rentenfaktoren oder bei Riester-Banksparplänen hinsichtlich der Abschlusskostenbelastung für die verpflichtende Verrentung des Restguthabens.
Typische Probleme gibt es aber auch in den anderen Sparten. Der Versicherungsombudsmann vermisst offenbar ab und zu, dass die Versicherer den Anspruch des VVG ernst nehmen, „stets ehrlich, redlich und professionell“ in „bestmöglichem Interesse“ des Kunden zu handeln. Bei allem Verständnis für wirtschaftliche Zwänge beschwor Schluckebier die alte „Goldene Regel“, nach der man Andere so behandeln sollte, wie man gern selbst behandelt werden möchte.
Industrie versichert sich gegenseitig
Die Großindustrie ist in der Geschichte der professionellen Versicherungswirtschaft immer wieder einmal unzufrieden gewesen mit dem Angebot der Versicherungsunternehmen, zeigte Patrick Fiedler auf, der den Versicherungsbereich der BASF leitet und im Vorstand des Gesamtverbands der Versicherungsnehmenden Wirtschaft (GVNW) sitzt. So gründeten beispielsweise Textilunternehmer 1835 die F.M. Global, 1903 Montanunternehmen den HDI oder 1972 Ölgesellschaften die OIL Insurance. Alle diese Gesellschaften wurden als Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit gegründet, bei denen zunächst nur Industrieunternehmen Mitglied werden konnten, man war „Club-intern“. Manchmal öffnen sich die Unternehmen im Lauf der Zeit für den Markt, wie das Beispiel HDI zeigt.
Auch aktuell gibt es eine Unzufriedenheit in der Industrie mit den Zeichnungskapazitäten der Versicherungsbranche, und zwar in der Cyberversicherung. Das war Motivation zur Gründung des Gegenseitigkeitsvereins Miris. Als Sitz wurde Brüssel gewählt. Die belgische Finanzmarktaufsicht habe sich weitaus kooperativer und marktorientierter gezeigt als die deutsche Versicherungsaufsichtsbehörde.
„Die Unzufriedenheit muss sehr groß sein, bevor Unternehmen diesen Schritt wagen“, so Fiedler. Miris sei allerdings als junges Unternehmen noch nicht in der Lage, die Führung bei Versicherungsprogrammen zu übernehmen. Auch müssten die Zeichnungsgrenzen künftig noch weit über die jetzt möglichen 25 Millionen Euro hinaus gehen – die aber seien schon eine wesentliche Verbesserung gegenüber den sonst verbreiteten Deckungen. Neben der Zeichnungskapazität ist eine weitere zentrale Aufgabe das Risikomanagement. Eine Besonderheit der Miris sei, dass die zentralen IT-Sicherheitsverantwortlichen der Kunden in einem Peer-Review-Verfahren die Cybersicherheit der zu versichernden Unternehmen beurteilen.
Früher war mehr Vielfalt
1588 wurde der erste Seeversicherungsvertrag in Hamburg geschlossen, berichtete der Augsburger Rechtshistoriker Professor Philipp Hellwege. 1591 schlossen sich 100 Braumeister in Hamburg zu einem „Feuerkontrakt“ zusammen, eine frühe Form des Zusammenschlusses von Unternehmern, meinte er mit Blick auf den vorhergehenden Vortrag des BASF-Versicherungschefs.
In einem Forschungsprojekt befasst Hellwege sich mit der Frage, wann eine Versicherung historisch als eine solche bezeichnet werden kann. Es gebe viele Vorläufer des heutigen Versicherungswesens, die keineswegs alle Merkmale erfüllen, die man heute einem Versicherungsvertrag zuschreibt. Diese frühen Versicherungsformen waren auch keineswegs alle erfolglos, wie die Geschichte der Tontinen zeigt, einer frühen Form der Leibrente. Insbesondere gab es vor dem 19. Jahrhundert keine klare Abgrenzung zwischen Privat- und Sozialversicherung.
Eine überflüssige Reform
Aktuell für viel Gesprächsstoff sorgt der Entwurf einer Kleinanlegerstrategie der EU-Kommission vom Mai 2023. Ob und wann genau diese kommt, konnte auch Anne Fischer, Partnerin bei Norton Rose Fullbright nicht voraussagen. Die bevorstehende Europawahl bringe einen hohen Zeitdruck mit sich. Wird die Kleinanlegerstrategie verabschiedet, werden die Mitgliedsländer nur ein Jahr und damit wenig Zeit für die Umsetzung erhalten.
In einer von Frau Fischer moderierten Paneldiskussion lehnte Norman Wirth, Geschäftsführender Vorstand des AfW Bundesverbands Finanzdienstleistung, die Reform als überflüssig ab. Es werde nichts sinnvoll Neues geregelt, was nicht bereits mit der heutigen Regulierung der Wertpapier- und Versicherungsmärkte erreicht werden könne, aber die Bürokratie einmal mehr erhöht.
Das Kundenvertrauen fehlt
Dagegen betonte Stephen Rehmke, Vorstand des Bundes der Versicherten, dass man die Tatsache ernst nehmen sollte, dass 45 Prozent der im Vorfeld befragten Kunden kein Vertrauen in Finanzprodukte und deren Produktgeber gezeigt hätten. Das könne die Branche nicht einfach weiter machen lassen wie bisher. Kritik äußerte er an hohen Abschlusskosten in Versicherungsanlageprodukten, daher solle man „den ausschließlichen Provisionsvertrieb überdenken“. Der Einfluss großer Vertriebe wie durch Banken, Sparkassen und Strukturvertriebe sei möglicherweise zu hoch. Außerdem kritisierte Rehmke Umdeckungsaktionen zum Nachteil der Kunden.
Dass Umdeckungen mit Nachteilen wie dem Wegfall alter Garantiezinsen nicht wünschenswert sind, bestätigte auch Marc Schmiele als Vertreter des Gesamtverbandes der Versicherer (GDV). Zur Kleinanlegerstrategie meinte Schmiele, deren Ziele seien zwar gut, die Umsetzung aber schlecht. Man sollte mit Hilfe verhaltensökonomischer Methoden untersuchen, warum Kunden immer noch aktiv auf Vorsorge angesprochen werden müssen und nicht eigeninitiativ im dann günstigeren Direktvertrieb Vorsorgeprodukte erwerben. Außerdem kritisierte er an der von der EU-Kommission herangezogenen Marktforschungsstudie von Kantar, dass sie Bruttotarife und Nettotarife miteinander vergleicht, ohne bei Nettotarifen die parallel zu zahlenden Honorare einzurechnen und die fehlende Stornohaftung zu berücksichtigen.
Autor(en): Matthias Beenken