"Alt, arm und abgezockt" – der Titel spricht bereits Bände. In seiner Abrechnung mit seiner früheren Branche gibt der Autor und Ex-Vorstand Sven Enger aber auch viel über sich selbst preis."Die private Altersvorsorge ist in Gefahr. Vor allem die klassische Lebensversicherung, das mit Abstand beliebteste Modell bei der Alterssicherung, steht vor dem Kollaps. Den Kunden droht der Verlust ihrer Anlagen und damit Altersarmut."
So reißerisch geht es in einigen Teilen des Buchs von Sven Enger weiter, das mit einigem Medienrummel als die Lebensbeichte eines Insiders angekündigt wurde. Enger war bei verschiedenen Versicherern – Deutscher Ring, Delta Lloyd, Skandia und Standard Life – in führenden Positionen tätig. Keiner der genannten Versicherer ist ungeschoren durch die letzten zwei Jahrzehnte gekommen, vielleicht mag auch das zu einer Weltuntergangsstimmung beitragen, die sich in Teilen des Buchs breitmacht. Insbesondere das Thema Run-off treibt ihn erkennbar um, was aus seiner Historie nicht verwunderlich erscheint.
Marx muss herhalten
Ein wirklich tiefes Verständnis des Geschäftsmodells Lebensversicherung, jedenfalls in der deutschen Variante, scheint sich der Autor nicht erworben zu haben. Seine Ursachen- und Wirkungs-Analyse bleibt doch oft sehr oberflächlich, und wo Fakten fehlen, werden sogar schon einmal alte Kapitalismuskritiker wie Marx zitiert. Das bis jetzt jedenfalls noch kein einziger Lebensversicherter in der von ihm kritisierten, traditionellen deckungsstockgestützten Lebensversicherung seine garantierten Ansprüche verloren hat, findet keine ausreichende Würdigung.
Das ist bei manchen angelsächsischen Produktkonzepten durchaus anders, aber so viel Differenzierung hätte dann wohl nicht den reißerischen Titel gerechtfertigt. Auch dass die Vertriebseskapaden beim Absatz von Lebensversicherungen in den letzten 20 Jahren in der Regel mit schwächer regulierten, ausländischen Lebensversicherungskonzepten - zum Beispiel britischen, liechtensteinischen und luxemburgischen - statt mit den hochregulierten deutschen erfolgte, müsste ihm eigentlich zu denken geben.
Und wie so oft bei solchen Büchern, fehlt die Perspektive, die Lösung. "Geben Sie Ihr Geld aus", ist alles, was Enger dazu einfällt. „So ist zumindest sichergestellt, dass Sie direkt profitieren und das Geld nicht in undurchsichtigen Kanälen verschwindet oder das gewählte Anlagemodell crasht.“ Wie das mit seinem an mehreren Stellen abgegebenen Bekenntnis zusammenpasst, Altersarmut verhindern zu wollen, bleibt für die Leser rätselhaft.
Augen zu und durch
Sehr lesenswert sind aber die Passagen, in denen Enger eine Art Selbstoffenbarung leistet, wie ein Vertriebsvorstand denkt und handelt. "Wir im Vorstand nahmen die Prophezeiung achselzuckend zur Kenntnis, Augen zu und durch", schreibt Enger über die Warnung eines Aktuars aus der Zeit des Steuer-Schlussverkaufs von 2005, nicht zu viel kurzfristiges Garantiegeschäft in die Bücher zu nehmen.
Dabei stellt er einen Zusammenhang mit der typischen Befristung von Vorstandsverträgen her, die in Deutschland meist auf fünf Jahre und in angelsächsischen Unternehmen noch deutlich kürzer abgeschlossen werden. "Mein Vertrag läuft nächstes Jahr aus - ich wäre wahnsinnig, jetzt irgendwelche strategischen Entscheidungen zu treffen, die die ferne Zukunft betreffen."
Zudem habe er Bonifikationen "bis zu 100 Prozent auf das ohnehin schon recht üppige Gehalt" kennengelernt. "Und solche Ergebnisse lassen sich natürlich beeinflussen, etwa indem man Abschlüsse und Zahlungen vor- oder rückdatiert, Rückstellungen bildet oder Auszahlungen vorzieht", so Enger weiter.
Und Enger legt nach: Als "rot" denkender, erfolgsorientierter Verkäufer habe er teil gehabt an "organisierter Verantwortungslosigkeit". So beschreibt er, dass er in 25 Jahren in der Branche "nicht ein einziges Mal ein vertraglich fixiertes Qualitätsziel" gesetzt bekommen habe. "Eine möglichst niedrige Stornoquote beispielweise, ein Rückgang der Kundenbeschwerden, das Erreichen der Budgetziele oder die Entwicklung neuer Produkte" seien "zwar nicht gänzlich unerheblich, aber zweitrangig" gewesen. „Der Karriere förderlich und vertraglich vorgegeben waren allein die eher kurzfristigen Quantitätsziele, Umsatzziele, Wachstumsziele.“ 80 Prozent seiner Bonifikationen seien an Neugeschäftsziele gebunden gewesen.
Fall für die Aufsicht
Auch kritisiert der Autor ein "überkommenes Management-Denken", wonach die Anzahl der unterstellten Mitarbeiter und die Umsatzverantwortung "maßgebend für meinen Rang und Einfluss" sowie für das Einkommen gewesen seien.
Sollte Enger mit seinen Einblicken in das Denken und Handeln von Vorständen Recht haben, dann wäre nun die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht gefordert, die Unternehmen einmal genauer unter die Lupe zu nehmen. Insbesondere die in dieser Woche in Kraft tretende Umsetzung der Versicherungsvertriebsrichtlinie (IDD) und die begleitenden Delegierten Rechtsakte der Europäischen Kommission bieten ausreichend Handhabe dafür. Systemische Fehlanreize und Vertriebssteuerungen können nun direkt geahndet werden.
Lesetipp
Sven Enger: Alt, arm und abgezockt, Der Crash der privaten Altersvorsorge und wie Sie sich darauf vorbereiten können, ISBN 978-3-430-20214-5, 2018 Econ Verlag
Autor(en): Matthias Beenken