Was sind Umsatz- und Ergebnisprognosen von Unternehmen in der Corona-Krise noch wert? Ein neues Prognosemodell hilft, die Qualität der Vorhersagen für Versicherer der Sparte Schaden/Unfall besser einzuschätzen.
Prognosen. Sie sind die Planungsgrundlage für Wirtschaft und Politik. Sinkt ihre Qualität, stehen Regierungen, Banken und Unternehmen vor massiven Problemen: Wie Konjunkturhilfen bemessen, wie Investitionen planen, wie Leitzinsen festsetzen, wie Schäden abschätzen?
Wie stark die Corona-Krise die Qualität von Prognosen beeinflusst, war in der ersten Welle im Frühjahr zu erleben. Bei Auftreten des Corona Virus in den USA haben circa 80 Prozent der im S&P 500 notierten Unternehmen keine Prognose abgegeben. Im zweiten Geschäftsquartal übertrafen 84 Prozent der im S&P 500 notierten US-Unternehmen die Gewinnprognosen der Analysten; in den zwei Jahrzehnten zuvor lag der Wert bei durchschnittlich nur 68 Prozent. Egal, ob hinter der Abweichung taktisches Kalkül oder Marktpsychologie gelegen hat: Als Planungsgrundlage haben Prognosen mit diesem Fehlermaß deutlich an Wert verloren.
Konjunkturforscher gingen lange Zeit von drei möglichen Erholungsszenarien für die Wirtschaft aus: einer V-förmigen Entwicklung mit rascher Erholung, einer U-förmigen Entwicklung mit längerer Durststrecke oder einem Doppelschlag in Form eines W. MSG Research hat ein Prognosemodell für die deutsche Versicherungsindustrie in der Sparte Schaden/Unfall erstellt, wonach es hier anders kommt: Nach einem rasanten Absturz setzt die Erholungsphase zwar schnell ein, wird allerdings deutlich länger andauern. Der Verlauf gleicht damit einem gespiegelten Wurzelzeichen:
Das Szenario zeigt eine stetige Erhöhung der Prämien in den Jahren vor der Corona-Krise (t-x). Es folgt ein starker Einbruch im ersten Jahr der Pandemie (t) mit einer sich schnell anschließenden Erholungsphase. Diese wird allerdings längere Zeit (mehrere Jahre, t+x) andauern, bevor wieder die Ergebnisse aus Vorkrisenzeiten erzielt werden. Die Abbildung dieser Entwicklung ähnelt einem Wurzelzeichen mit Erhöhung links anstatt rechts (horizontal gespiegelt).
Das Modell für Versicherer soll helfen, gesamtwirtschaftliche Prognosen in einen Kontext zu setzen und um Erfahrungen bisheriger Krisen zu ergänzen – und geht damit einen anderen Weg.
Dieses Modell legt drei Komponenten mit ihren jeweiligen Stärken für die Prognose zusammen:
- Wissenschaftliche Aussagen über das ökonomische Gesamtbild
- Eine segmentierte Analyse der prämienrelevanten Aspekte einzelner Versicherer
- Erfahrungswerte über die Intensität ähnlicher Situationen, etwa die Finanzkrise von 2008
Das Ergebnis dieses Modells ist auch für Versicherer der Sparte Schaden/Unfall ernüchternd: Sie werden in der anhaltenden Krise einen tiefen Einbruch erleiden, dem keine rasche Erholung folgt. Zwar wird die Erholungsbewegung der Prämieneinnahmen schneller einsetzen als in der Finanzkrise 2007/08, die Erholung wird jedoch nicht die Kraft haben, gleich wieder das Niveau von 2018/19 zu erreichen. Vielmehr wird es mehr als ein Jahr brauchen, daran wieder anzuschließen.
Ein Grundproblem liegt in der wirtschaftlichen Gesamtkonstellation des vergangenen Jahrzehnts sowie in der Breite und Intensität der jetzigen Krise. Die Unternehmen hatten eine längere Phase starken Wachstums in einem langjährigen Niedrigzinsumfeld hinter sich. Hohe Kreditlinien vor allem im privaten Bereich und erste Zeichen einer Sättigung vor der Corona-Krise deuten auf eine verminderte Stabilität des Wachstums und eine geringere Widerstandskraft gegenüber Krisen hin. Im Vergleich zu 2007/08 ist festzustellen: Der wirtschaftliche Einbruch durch Corona trifft breiter auf eine Wirtschaft mit den genannten Schwachstellen und wird eine sich hinziehende Erholung auf das Vorkrisenniveau zur Folge haben.
Die Stärke des Einbruchs, die anschließende Erholung und der weitere Verlauf sind stark von exogenen Faktoren wie dem Infektionsgeschehen, schützenden Einschränkungen wie etwa dem zweiten Lockdown seit Anfang November sowie konjunkturellen Maßnahmen abhängig. Die Form des Wurzelzeichens als solches – also der abrupte, intensive Abfall und die langsame Erholung der Prämieneinnahmen für die Sparte Schaden/Unfall im Allgemeinen – ist nach der Prognose jedoch eine Folge aller Szenarien mit Auswirkungen auf die Versicherer.
Das bedeutet: sinkende Prämien, steigende Risiken und weiterhin wenig einträgliche Kapitalanlagen. Inwieweit neue Produkte, die Risiken aus Pandemien wie Corona adressieren, auf dem Markt Erfolge zeigen, ist heute noch unklar.
Die Auswirkungen der Finanzkrise auf die Prämieneinnahmen bewegten sich in der Branche Schaden/Unfall im Gesamtmarkt in einem Bereich von etwa drei Prozentpunkten. Die Versicherungsunternehmen (VUs) wurden dabei unterschiedlich stark getroffen, wobei bis zum Jahr 2010/2011 Prämienreduktionen von bis zu 8 Prozent durchaus vorkamen.
Das Prognosemodell zeigt jedoch auch: Versicherungsgesellschaften, die in den vergangenen Jahren ihren Vertrieb und ihre Prozesse stark digitalisiert haben, werden mindestens ein Jahr früher an alte Geschäftsergebnisse anschließen können, anders als ihre Wettbewerber mit niedrigem Digitalisierungsgrad. Dies eröffnet ihnen zusätzlichen finanziellen Spielraum, um ihre Marktposition zu verbessern.
Autor(en): Shpend Tahirsylaj