In Arztpraxen wächst der Markt an privaten Zusatzleistungen

Immer öfter werden gesetzlich krankenversicherten Patienten in Deutschland beim Arztbesuch Zusatzleistungen gegen private Rechnung angeboten. Aktuell haben etwa 16 Millionen gesetzliche
Krankenversicherte (23,1 Prozent) innerhalb eines Jahres beim Arzt
eine solche Erfahrung gemacht. Dabei wird dieses Angebot deutlich
eher einkommensstarken und gebildeten Patienten offeriert. Die
gesetzlich versicherten Patienten zeigen sich angesichts der
Vermarktung privater Zusatzleistungen in der Arztpraxis häufig
verunsichert und sehen vielfach eine Belastung des Arzt-Patienten-Verhältnisses. Dies sind Ergebnisse einer aktuellen Studie, die das Wissenschaftliche Institut der AOK (WIdO) und die
Verbraucherzentrale NRW in Bonn vorlegt haben. Sie basiert auf
bundesweiten telefonischen Repräsentativbefragungen von 3000
gesetzlich Krankenversicherten sowie einer schriftlichen Befragung
von rund 900 gesetzlich Krankenversicherten mit IGeL-Erfahrung, die in Beratungsstellen der Verbraucherzentrale NRW durchgeführt wurde. Die Autoren plädieren für mehr Transparenz und Qualitätssicherung auf dem IGeL-Markt.

Immer häufiger treten Ärzte als Verkäufer von sogenannten "Individuellen Gesundheitsleistungen" (IGeL) auf. Patienten werden so
zu Kunden, die eine Leistung per Privatrechnung begleichen. So zeigen
die durchgeführten bundesweiten Repräsentativbefragungen, dass sich der Anteil der Personen, die in einer Arztpraxis ein IGeL-Angebot
erhalten haben, gegenüber dem Vorjahr von 16 auf 23,1 Prozent erhöht hat. Dies entspricht einer Zunahme um 44 Prozent. Erfahrung mit dem Angebot von IGeL in den letzten zwölf Monaten haben damit rrund 16 Millionen Versicherte der gesetzlichen Krankenversicherung, zahnärztliche Leistungen ausgenommen. Nach der vorliegenden Studie, so WIdO-Geschäftsführer Jürgen Klauber, sei der IGeL-Markt mittlerweile ein Milliardenmarkt. So zeigt eine Hochrechnung auf der Basis der Befragungsdaten, dass in den letzten zwölf Monaten in den Arztpraxen rund 15,9 Millionen IGeL-Leistungen (ohne zahnärztliche Leistungen) verkauft worden sind und damit ein Umsatz von rund einer Milliarde Euro erzielt wurde.

Bei den Angaben der Versicherten zu den IGeL-Leistungen zeigt sich
eine große Bandbreite. An der Spitze liegen mit einem Anteil von 21,8
Prozent Ultraschalluntersuchungen, gefolgt von Augeninnendruckmessungen (16,0 Prozent) und ergänzenden
Krebsfrüherkennungsuntersuchungen bei Frauen (10,5 Prozent). Auf diese drei Leistungsgruppen entfällt nahezu die Hälfte der angebotenen Leistungen. Dabei adressieren die IGeL-Angebote unterschiedliche
Personenkreise.

Wolfgang Schuldzinski, Projektleiter Gesundheit bei der Verbraucherzentrale NRW: "Bei den Angeboten individueller Gesundheitsleistungen ist der persönliche Nutzen für den Patienten keineswegs immer klar. Es fehlt an ausreichender Transparenz in diesem Privatmarkt, eine systematische Qualitätssicherung gibt es nicht."

Betrachtet man die einzelnen Arztgruppen, so machen sowohl
Frauenärzte als auch Augenärzte im Durchschnitt zehnmal häufiger als
Allgemeinmediziner ein solches privates Leistungsangebot. An dritter
Stelle liegen die Urologen, gefolgt von Hautärzten und Orthopäden.
Innerhalb der Arztgruppen dürften darüber hinaus erhebliche
Unterschiede bei der Teilhabe am IGeL-Markt bestehen, so
Projektleiter Klaus Zok im WIdO.

Die Befragungsergebnisse zeigen im Weiteren, dass nur in 39,4
Prozent der Fälle vor der Leistungserbringung eine schriftliche
Vereinbarung getroffen wurde. Nach erfolgter Leistungserbringung
wurde in 85,2 Prozent der Fälle die erforderliche Rechnung
ausgestellt. Rechtsanwalt und Gesundheitsexperte Schuldzinski:
"Keineswegs kann davon ausgegangen werden, dass der Verkauf von
IGeL-Leistungen immer rechtlich korrekt erfolgt."

IGeL-Leistungen werden in deutlich größerem Umfang Patienten mit
überdurchschnittlicher Bildung und höherem Einkommen angeboten. So bekam in den unteren Einkommensgruppen (bis 2000 Euro
Haushaltsnettoeinkommen) nur etwa jeder Fünfte Privatleistungen
vorgeschlagen (17,6 Prozent), während in den höheren Einkommensgruppen (über 4000 Euro Haushaltsnettoeinkommen) gut ein Drittel der Befragten (35,5 Prozent) über ein individuelles Angebot ihres behandelnden Arztes berichtet. Patienten mit hoher Schulbildung werden doppelt so häufig private Zusatzleistungen angeboten (30,7 Prozent) wie Patienten mit einfacher Schulbildung (15,7 Prozent). Dies zeige, dass beim IGeL-Markt die Orientierung am medizinisch Notwendigen nachgeordnet sei, so Studienautor Zok.

Mehr als 40 Prozent der befragten Versicherten denken, dass das
Arzt-Patienten-Verhältnis durch IGeL beeinflusst wird. Auf Nachfrage
befürchten sie im Regelfall eine Verschlechterung der Arzt-Patienten-Beziehung (79,4 Prozent). Konkret geben sie oft an, dass sie
beim Arzt ein ökonomisches Verkaufsinteresse wahrnehmen und sich
dadurch verunsichert fühlen. "Die IGeL-Angebote werden zum Stachel in der Arzt-Patienten-Beziehung", so WIdO-Leiter Klauber. Der Rollenkonflikt des Mediziners zwischen objektiver fachlicher Beratung und den eigenen ökonomischen Interessen bedürfte noch einer Antwort und die Suche nach einer ethischen Positionierung stelle für die Ärzteschaft eine wachsende Herausforderung dar.

Letztlich plädieren die Studienautoren für mehr Transparenz und
Qualitätssicherung im wachsenden Privatmarkt der IGeL. Den Patienten, die sich durch ein solches Angebot verunsichert fühlen, empfehlen sie, sich beraten zu lassen. Krankenkassen und die
Patientenberatungsstellen der Verbraucherzentralen bieten dazu
Beratungen an.

Bezug der Studie:
Die Studie "Private Zusatzleistungen in der Arztpraxis" kann beim Wissenschaftlichen Institut der AOK (WIdO) bezogen werden
(Tel.: 0228 843-393). K. Zok / W. Schuldzinski: Private Zusatzleistungen in der Arztpraxis. Ergebnisse aus Patientenbefragungen, Bonn 2005. 86 Seiten, 10,00 Euro.

Quelle: AOK Bundesverband




Autor(en): Susanne Niemann

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