Das Bundesjustizministerium hat vergangene Woche eine 700 Seiten lange Liste an Vorschlägen zum Abbau unnötiger gesetzlicher Regeln vorgelegt – darunter auch in Zusammenhang mit dem Vertrieb von Versicherungen.
Wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung kürzlich berichtete, hat Staatssekretär im Bundesjustizministerium (BMJ) Benjamin Strasser (FDP), der als „Koordinator der Bundesregierung für bessere Rechtssetzung und Bürokratieabbau“ eingesetzt ist, eine lange Liste an Wünschen von Wirtschaftsverbänden vorgelegt, welche Bürokratie vermieden werden sollte. Insgesamt 442 Vorschläge wurden vom Statistischen Bundesamt nach dem möglichen Entlastungspotenzial gegliedert.
Digital statt Papier
In Kategorie 1 finden sich Vorschläge, die „die als potenziell geeignet für unmittelbare gesetzliche Maßnahmen der Ressorts eingeschätzt werden oder die in einem weiteren Bürokratieentlastungsgesetz (BEG IV) umgesetzt werden könnten“. Darunter sind auch eine Reihe Vorschläge des Gesamtverbands Deutscher Versicherungsunternehmen (GDV).
Weit oben priorisiert steht der Vorschlag, die Abwicklung von betrieblichen Altersvorsorgeverträgen und von geförderten Rentenversicherungen durch einen Wechsel von der Schriftform zur Textform zu erleichtern. Zum Beispiel der massenhafte Austausch von Informationen zur Riesterrente könnte digital statt durch Papiernachweise umgesetzt werden.
Um den Ersatz von Papier durch eine digitale Information geht es auch bei dem Anliegen der Versicherer, die nach § 126 Absatz 2 VAG zum Schluss eines jeden Geschäftsjahres ein Sicherungsvermögensverzeichnis in Papierform bei der Aufsichtsbehörde einreichen müssen. Eine allerdings nur in bestimmten Einzelfällen relevante Erleichterung könnte zudem eine Vereinfachung der Einlagenrückgewähr in Auslandsfällen nach dem Körperschaftssteuergesetz bieten. Schließlich würden sich die Versicherer freuen, wenn sie ihre Jahresabschlüsse nur noch digital statt auch in Papier und mit Originalunterschriften aufbewahren müssten. Die Entlastungswirkung wird allerdings als weniger hoch eingeschätzt.
Ärger über verbindliche Auskünfte der Finanzverwaltung
In steuerlicher Hinsicht ärgert die Versicherer, dass verbindliche Auskünfte zur steuerlichen Beurteilung von Sachverhalten durch die Finanzbehörden immer noch so umständlich geregelt sind, dass davon kaum Gebrauch gemacht wird. Das führe dazu, dass oft erst mit viel höherem Aufwand im Nachhinein anlässlich von Betriebsprüfungen die richtige steuerliche Einordnung festgestellt wird.
Die Rechtssicherheit könnte deutlich verbessert werden, wenn die Finanzämter verpflichtet würden, Anträge auf eine verbindliche Auskunft in maximal drei Monaten Frist anstelle der bisherigen, sogar noch unverbindlichen sechs Monate zu beantworten. Außerdem stellen die Versicherer in Frage, warum für solche Auskünfte Gebühren verlangen, obwohl doch der Sachverhalt ohnehin irgendwann zu prüfen ist, zumal bei den Gebühren ebenfalls eine Unsicherheit über deren Bemessungsgrundlage und damit die Höhe besteht.
Eine Vereinfachung und Beschleunigung erwartet man zudem von einer Digitalisierung der Versicherungsbescheinigung für Fahrzeuge mit Versicherungskennzeichen. Diesem Vorschlag wird eine mittelstarke Entlastungswirkung nachgesagt.
Dunkelverarbeitung versus Datenschutz
Auch in Kategorie 2 finden sich Vorschläge des GDV wieder. In dieser Kategorie sind Vorschläge zusammengefasst, bei denen eine geeignete gesetzliche Umsetzung oder eine untergesetzliche Umsetzung zum Beispiel per Verordnung erst noch geprüft werden muss. So wünschen sich die Versicherer eine Vereinheitlichung der elektronischen Rechnungsstellung im öffentlichen Auftragswesen des Bundes, was allerdings eine einheitliche Handhabung der Bundesländer voraussetzt.
Zeit- und Kostenersparnis verspricht man sich im Datenschutzrecht, wenn die Interpretation des Art. 20 DSGVO durch die Datenschutzbehörden „abgemildert“ werden könnte beziehungsweise das deutsche Datenschutzgesetz BDSG abgeändert würde. Es geht um eine vollautomatische Antragsprüfung und Schadenregulierung bei Versicherungsverträgen.
Diese sollte grundsätzlich stets möglich sein. Eine Überprüfung der Entscheidungen durch beim Versicherer beschäftigte Menschen sollte dagegen erst in einem zweiten Schritt verlangt werden können, sofern Betroffene mit einer Entscheidung des Versicherers nicht einverstanden sind.
Die EU als eigentlicher Adressat
Ein Vorschlag der Versicherer wurde der Kategorie 4 zugeordnet. Die darin enthaltenen Vorschläge wurden nicht priorisiert, sondern „an außerhalb der Bundesregierung zuständige Stellen zur Prüfung“ weitergeleitet.
Der Vorschlag lautet „Beratung von Versicherungskunden digitalisieren“ und enthält die Forderung, in den Formvorschriften des § 6a VVG, die von Versicherern und auch von Vermittlern zu beachten sind, das Verhältnis von Regel und Ausnahme umzudrehen. Die Regel sollte danach sein, dass Rat und Gründe für den Rat, also die Beratungsdokumentation, elektronisch an den Kunden übermittelt werden können, schriftlich und damit papiergebunden jedoch nur auf besonderen Wunsch des Kunden.
Dieser Vorschlag dürfte keine Realisierungschance haben, denn die Vorschrift des § 6a VVG setzt wörtlich den Artikel 23 der Europäischen Versicherungsvertriebsrichtlinie IDD um – und die kann nicht von der Bundesregierung geändert werden.
Kein Kampf der Informationsflut?
Erstaunlich an der Wunschliste der Versicherer ist, dass dort der § 7 VVG und die darauf basierende VVG-Informationspflichtenverordnung nicht auftauchen, obwohl sogar der frühere Staatssekretär des BMJ und bekennende Verbraucherschützer, Gerd Billen, die Flut an Informationen überprüfen wollte, die durch die Vorgabe einer „rechtzeitigen“ Übermittlung sämtlicher Vertragsinformationen „vor Abgabe von dessen [des Versicherungsnehmers] Vertragserklärung“ entstanden ist. Dadurch geht das Produktinformationsblatt in der Flut von Informationen unter, bei der es nach einer berühmten Aussage des früheren BGH-Richters und ersten Versicherungsombudsmanns, Professor Wolfgang Römer, egal ist, ob diese vor oder nach Vertragsschluss nicht gelesen würden.
Die mit der VVG-Reform entstandene Ausgestaltung des § 7 VVG führt zu einer erheblichen bürokratischen Belastung, weil selbst bei unverbindlichen Vorschlägen, zu denen der Kunde längst noch keine Zustimmung gegeben hat, Unmengen an echtem oder virtuellem Papier erzeugt werden müssen.
Bürokratie-Aufwuchs durch Nachhaltigkeit
Selbst wenn die Liste der Bürokratieabbauwünsche komplett und zügig umgesetzt werden sollte, dürfte die Entlastungswirkung nicht im Ansatz ausreichen, um die Mehrbelastungen allein durch die europäische Nachhaltigkeits-Bürokratie auszugleichen.
Dafür ist die Bundesregierung zumindest insofern mit verantwortlich, als sie über den Europarat versuchen könnte, Mehrheiten gegen die ausufernden und trotzdem – oder gerade deswegen – wenig hilfreichen Berichtspflichten zur Nachhaltigkeit zu organisieren. Beim geplanten, kategorischen Verbot von Verbrennungsmotoren hat das mit dem Argument Technologieoffenheit geklappt. Auch bei der Bekämpfung des Klimawandels müssen wohl erst noch europäische Augen geöffnet werden, dass der Klimawandel jedenfalls wohl kaum mithilfe von 100 Seiten umfassenden Produktinformationen mit sich – aus Laiensicht – gegenseitig widersprechenden Informationen zur ESG- und zur Umwelttaxonomie-Konformität von Anlagen aufgehalten werden kann.
Autor(en): Matthias Beenken