Zahlreiche Hausaufgaben der Bundesregierung mit Bezug auf die Versicherungsbranche sind unerledigt, auch in Brüssel ist Sand im Getriebe. Welche Chancen sich für den Vertrieb ergeben.
„Wir halten das Rentenniveau stabil, erweitern die gesetzliche Rentenversicherung um eine teilweise Kapitaldeckung und werden das System der privaten Altersvorsorge grundlegend reformieren“, so hieß es im Koalitionsvertrag der „Ampel-Regierung“ aus SPD, Grünen und FDP von 2021, überschrieben mit „Mehr Fortschritt wagen“. Mehr als die Hälfte der Legislaturperiode ist vorbei, und außer der Vorlage von teils kritikwürdigen Vorschlägen einer „Fokusgruppe private Altersvorsorge“ durch das Bundesfinanzministerium ist von Fortschritt weiterhin nichts zu sehen.
Mini-Reform gestrichen, Europawahl bremst
Stattdessen musste die Ampel nach dem verheerenden Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 15. November zur kreativen Umwidmung von Corona-Nothilfen in einen „Klima- und Transformationsfonds“ selbst das Mini-Reförmchen der Gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) streichen. Eigentlich sollte mit zehn Milliarden Euro Anschubhilfe ein Kapitalstock für eine kapitalgedeckte Rente der Zukunft gebildet werden. „Mini“ deshalb, weil allein die Kassenrücklage der GRV für vorübergehende Zahlungsschwankungen – irreführend als „Nachhaltigkeitsrücklage“ bezeichnet – mehr als das Vierfache dieses geplanten und nun gestrichenen Kapitalstocks ausmacht.
„Die betriebliche Altersversorgung wollen wir stärken, unter anderem durch die Erlaubnis von Anlagemöglichkeiten mit höheren Renditen. (…) Wir werden das bisherige System der privaten Altersvorsorge grundlegend reformieren“, heißt es weiter im Koalitionsvertrag. Nur noch Träumer glauben, dass es dazu in dieser Legislaturperiode ernsthafte Fort-Schritte geben wird. Damit ist nebenbei auch der grüne Traum eines Angebots „eines öffentlich verantworteten Fonds mit einem effektiven und kostengünstigen Angebot mit Abwahlmöglichkeit“ zerplatzt, wie so viele andere nicht zu Ende gedachten Ideen.
Die Vermittlerverbände wird es freuen, dass auch in Brüssel Sand ins Kleinanleger-Strategiegetriebe geraten ist. Informierte Kreise schätzen es als unrealistisch ein, dass die gewaltige „Omnibus-Richtlinie“ zur Änderung verschiedener, bestehender Finanzmarktrichtlinien wie unter anderem Solvency II und Versicherungsvertriebsrichtlinie sowie zahlreiche Begleit-Gesetzgebungen noch vor der Europawahl durchgeboxt werden können. Damit ist auch das Projekt Einschränkung des Provisionsvertriebs von Kapitalanlagen und Versicherungsanlagen wohl erst einmal auf Eis gelegt.
Chancen für den Versicherungsvertrieb
Was bedeutet das alles für den Versicherungsvertrieb? Kann er sich zurücklehnen und weitermachen wie bisher?
Das wäre schade, denn 2024 kann stattdessen ein Jahr der Vertriebserneuerung werden. Wo die Politik versagt, könnten Unternehmerinnen und Unternehmer im Vertrieb zeigen, wie es tatsächlich geht in Sachen Vertrieb von Altersvorsorge-Lösungen. Statt mit bangen Blicken auf ausstehende „Fortschritts-Programme“ oder mögliche Provisionsbeschränkungen zu blicken, sollte der Vertrieb dieses Jahr zum Jahr des erfolgreichen Provisionsvertriebs von privaten wie betrieblichen Altersvorsorge- und sonstigen Vorsorgeprodukten machen.
„Mehr Fortschritt wagen“ könnte heißen, den Kunden reinen Wein einzuschenken, dass es keinen allmächtigen Vater Staat gibt, der mit immer neuen Schattenhaushalten jegliche Teuerung und Verkomplizierung des Lebens aus dem Weg „wummst“ und den kleinen Wohlstand des Durchschnittsbürgers schützen wird. „Mehr Fortschritt wagen“ heißt, die Kunden dafür zu begeistern, ihre Zukunft in die eigene Hand zu nehmen und sinnvolle Spar- und Vorsorgeentscheidungen zu treffen.
Eigenen Fortschritt wagen
„Mehr Fortschritt wagen“ heißt aber auch für den Versicherungsvertrieb, selbst geschaffene Stolpersteine aus dem Weg zu räumen. Ein zentraler Kritikpunkt ist die aus dem 19. Jahrhundert stammende, einmalige Abschlussprovision in der Lebens- und nebenbei bemerkt auch der Krankenversicherung, die dank des seligen Herrn Dr. Zillmer in den Bilanzen der Versicherer landet.
Eigenarterweise glauben dieselben Versicherungsvermittler, die in der Kompositsparte hervorragend überwiegend (Vertreter) oder sogar nur (Makler) von laufenden Provisionen leben, dass dasselbe in der Lebens- und Krankenversicherung zum Untergang des Vertriebsabendlandes führen würde. „Mehr Fortschritt wagen“ wäre, ungezillmerte oder teilgezillmerte Tarife zu vertreiben und sich als kluge Kauffrau und kluger Kaufmann zu freuen, mit jeder verkauften Lebensversicherung eine zukünftige, sicher kalkulierbare Einnahme aufzubauen. Der Kritik am einseitigen Abverkaufs-Anreiz solcher Produkte und einem hohen Umdeckungs-Anreiz wäre damit die Spitze gebrochen.
Mit den Kunden in Kontakt bleiben
Wenn das Ganze auch noch mit einer regelmäßigen Kundenbetreuung kombiniert wird, kann mehr Fortschritt in der Bekämpfung der Stornierungen und Beitragsfreistellungen gewagt werden, damit Kunden nicht ihre eigenen Vorsorgeziele verfehlen. Das sichert die laufenden Provisionseinnahmen und erschließt sogar neue, wenn Kunden vermehrt Zuzahlungen vornehmen sowie ihr Vermögen durch sinnvolle Fondswechsel mehren.
„Mehr Fortschritt wagen“ kann heißen, die Nachhaltigkeitspflichten ernst zu nehmen und in ihnen eine Chance zu entdecken, noch mehr Gründe für ein regelmäßiges Gespräch mit den Kunden über ihre Vorsorge zu führen. Auch wenn die Fragepflichten bürokratisch umständlich sein mögen, ein guter Berater wird den Kunden helfen, damit sinnvoll umzugehen. Und die Bewertung von Anlagen hinsichtlich ihrer Nachhaltigkeit entwickelt sich derzeit sehr dynamisch und liefert ständig neue Argumente für gute Angebote.
Elementar zur selbstgewählten Pflicht machen
„Mehr Fortschritt wagen“ heißt, auch in anderen Bereichen nicht auf die träge bis untätige Politik zu warten. Beispiel Elementarschaden-Pflichtversicherung: Zweieinhalb Jahre nach der Hochwasserkatastrophe in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen und selbst angesichts aktueller, neuer Hochwasserschäden ist auch dieses Thema in der „Unerledigt-Schublade“ verschwunden. Das sollte den Versicherungsvertrieb nicht daran hindern, radikal umzusteuern und keine Gebäude- und keine Hausratversicherung mehr ohne Elementarschadendeckung zu verkaufen.
Wäre es nicht ein toller Fortschritt, wenn der vermeintlich Provisions-fehlgesteuerte Vertrieb es schaffen würde, was die Politik nicht vermag: Sinnvolle Vorsorge- und Absicherungsprodukte erfolgreich zu installieren und die Kunden dauerhaft bei der Stange zu halten, statt auf „Wummse“ von Vater Staat zu warten?
Autor(en): Matthias Beenken