Gesetzliche Unfallversicherung (GUV)
1. Einordnung und Überblick
Die gesetzliche Unfallversicherung (GUV) ist ein Zweig der deutschen gesetzlichen Sozialversicherung. Versichert sind insbesondere Arbeitnehmer bei ihrer Arbeit, aber auch viele andere Personengruppen gegen Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten. Mit einem jährlichen Finanzvolumen von etwa 13 Mrd. Euro ist die GUV ein vergleichsweise kleiner Teil des Gesamtsystems der sozialen Sicherheit und der Gesundheitsversorgung.
2. Geschichte
Die GUV wurde 1884 mit dem „Unfallversicherungsgesetz“ eingeführt und erfasste zunächst nur Unternehmen mit besonders hohen Unfallrisiken. Schrittweise wurde der Versicherungsschutz auf verschiedene Wirtschaftszweige ausgedehnt und den für bestimmte Branchen zuständigen Berufsgenossenschaften aufgetragen. Seit 1942 sind alle gewerblich Beschäftigten durch die GUV geschützt. Im weiteren Verlauf wurde der Kreis der versicherten Personen um andere Personengruppen, wie z.B. Kinder, Schüler, Studierende, bürgerschaftlich Engagierte, ehrenamtlich tätige Personen, Mitarbeiter in Hilfsorganisationen, Feuerwehrleute, Lebensretter, Blut- und Organspender, Zeugen, Schöffen und nicht gewerbsmäßig in der häuslichen Pflege tätige Pflegepersonen (§§ 2, 3, 6 SGB VII) erweitert. Diese Gruppen sind überwiegend wie die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes bei den Unfallversicherungsträgern der öffentlichen Hand (i.d.R. „Unfallkassen“) versichert. Als Versicherungsfälle gelten in der GUV seit 1884 die eigentlichen Betriebsunfälle (siehe heute § 8 I SGB VII) und seit 1925 auch Berufskrankheiten (§ 9 SGB VII/Berufskrankheiten-Verordnung, kurz BKV) sowie Unfälle im Umgang mit Arbeitsgeräten und Wegeunfälle (§ 8 II SGB VII). Der Versicherungsschutz für Wegeunfälle wurde in der Folgezeit mehrfach ausgedehnt, insbesondere auf Familienheimfahrten und Umwege aufgrund von Fahrgemeinschaften oder im Zusammenhang mit der Betreuung von Kindern. Das Recht der GUV ist seit dem 1.1.1997 im Siebten Buch des Sozialgesetzbuchs geregelt, davor galt die Reichsversicherungsordnung (RVO) als Rechtsgrundlage. Die letzte umfassendere Anpassung des SGB VII erfolgte 2008 mit dem Unfallversicherungs-Modernisierungsgesetz (UVMG).
3. Aufgaben
Vorrangig hat die GUV mit allen geeigneten Mitteln Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten zu verhüten (Prävention). Seit 1996 ist die Verhütung arbeitsbedingter Gesundheitsgefahren einbezogen. Nach dem Eintritt von Arbeitsunfällen oder Berufskrankheiten hat die GUV den entstandenen Schaden umfassend zu beheben und auszugleichen. Die Gesundheit der Versicherten ist durch Heilbehandlung und medizinische Rehabilitation so weit wie möglich wieder herzustellen, die Versicherten sind sowohl ins Erwerbsleben (Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben) als auch gesellschaftlich wieder einzugliedern (Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft). Einkommensausfälle durch bleibende Gesundheitsschäden sind durch Renten (Versichertenrente) auszugleichen. Hat der Versicherungsfall den Tod zur Folge, sind an die Hinterbliebenen Renten und andere Geldleistungen zu zahlen (Hinterbliebenenentschädigung).
4. Grundprinzipien und Besonderheiten
Die GUV vermittelt den Versicherten umfassende soziale Sicherheit. Sie entlastet aber auch die Personen, die in den Betrieben für den Eintritt von Arbeitsunfällen oder Berufskrankheiten verantwortlich sind (insbesondere die Unternehmer selbst), von ihrer Haftung gegenüber den Geschädigten. Auf dieses doppelte Ziel sind die folgenden Grundprinzipien zurückzuführen, die die deutsche GUV prägen:
a) Die Haftung des Unternehmers für Schäden, die auf den vom Unternehmer zu verantwortenden betrieblichen Gefahren beruht, wird durch die öffentlich-rechtliche Verpflichtung der GUV zum Schadenausgleich ersetzt. Etwaige zivilrechtliche Schadenersatzansprüche der Geschädigten gegen den Unternehmer oder andere Beschäftigte sind weitestgehend ausgeschlossen.
b) Die Unternehmer tragen die Beiträge zur GUV allein, entsprechend ihrer Verantwortung für die betrieblichen Gefahren und ihrer Entlastung vom Haftungsrisiko.
c) Die Versicherungsleistungen orientieren sich am Schadenersatzprinzip, da sie an die Stelle von Schadenersatzansprüchen treten, aber auch an sozialrechtlichen Gesichtspunkten des Ausgleichs.
d) Ob Versicherungsschutz besteht, hängt von der faktischen Ausübung einer nach dem Gesetz versicherungspflichtigen Tätigkeit ab. Abhängig Beschäftigte sind daher versichert, selbst wenn ihr Arbeitgeber sein Unternehmen noch nicht beim zuständigen Unfallversicherungsträger gemeldet und dementsprechend keine Beiträge zur GUV gezahlt hat. Damit wird ein zuverlässiger und wirksamer Schutz für alle Personen erreicht, die das Gesetz unter Versicherungsschutz stellt.
e) Die Versicherungsleistungen werden grundsätzlich unabhängig vom Verschulden der Geschädigten, der Unternehmer oder weiterer Personen erbracht. Sie werden von Amts wegen festgestellt, d.h. ohne Antrag der Geschädigten. Damit wird das Beschäftigungsverhältnis vom Streit über die Berechtigung der Ansprüche entlastet.
f) Die GUV entlastet zwar die Unternehmer von ihrer Haftung, nicht aber von ihrer Verantwortung für die sichere und gesunde Gestaltung der Arbeitsumgebung und der Arbeitsbedingungen. Aufgabe der GUV ist es daher, dafür zu sorgen, dass die hierfür Verantwortlichen, die Unternehmer, in den Betrieben wirksame Prävention betreiben. Die GUV unterstützt zu diesem Zweck die mit der Durchführung der Prävention in den Betrieben betrauten Personen (Sicherheitsbeauftragte, Sicherheitsfachkräfte, Betriebsärzte, Betriebsräte) durch Beratung und Schulung, sie überwacht aber auch die Durchführung der erforderlichen Präventionsmaßnahmen in den Betrieben. Für die Prävention in den Betrieben gibt sie Empfehlungen und Informationen zur Ergänzung und Konkretisierung des staatlichen Arbeitsschutzrechts. Sie erlässt auch verbindliche Unfallverhütungsvorschriften, soweit das staatliche Arbeitsschutzrecht hierfür Raum lässt.
g) Das Verhältnis der verschiedenen Aufgabenbereiche der GUV zueinander wird durch zwei Grundsätze geprägt: „Prävention vor Entschädigung“ und „Rehabilitation vor Rente“.
h) All dies lässt sich optimal verwirklichen, weil die Berufsgenossenschaften branchenspezifisch und die Unfallkassen entsprechend der regionalen Gliederung von Bund, Ländern und Gemeinden als Körperschaften des öffentlichen Rechts mit Selbstverwaltung organisiert sind.
Literatur: Becker, P./Burchardt, K./Krasney, O. E./Kruschinsky, M., Gesetzliche Unfallversicherung (SGB VII) – Kommentar, Loseblatt, Sankt Augustin; Becker, H./Franke, E./Molkentin, T., Sozialgesetzbuch VII, Lehr- und Praxiskommentar, 4. Aufl., Baden-Baden 2014; Bereiter-Hahn, W./Mehrtens, G., Gesetzliche Unfallversicherung, Handkommentar, Loseblatt, Berlin; Eichenhofer, E., Sozialrecht, 8. Aufl. Tübingen 2012; Eichenhofer, E./Wenner, U., SGB VII, Kommentar, Köln 2010; Fuchs, M./Preis, U., Sozialversicherungsrecht, 2. Aufl., Köln 2009; Hauck, K./Noftz, W./Keller, W. , SGB VII, Gesetzliche Unfallversicherung, Kommentar, Loseblatt, Berlin; Igl, G./Welti, F., Sozialrecht, 8. Aufl., Köln 2007; Lauterbach, H./Watermann, F./Breuer, J., Unfallversicherung, Sozialgesetzbuch VII, 4. Aufl., Loseblatt, Stuttgart; v. Maydell, B./Ruland, F./Becker, U., Sozialrechtshandbuch, 5. Aufl., Baden-Baden 2012; Muckel, S./Ogorek, M., Sozialrecht, 4. Aufl., München 2011; Niesel, K. (Red.), Kasseler Kommentar Sozialversicherungsrecht, Loseblatt, München; Schmitt, J., SGB Vll, Gesetzliche Unfallversicherung, Kommentar, 4 . AufI., München 2009; Schulin, B. (Hrsg.), Handbuch des Sozialversicherungsrechts, Band 2, Unfallversicherung, München 1996; Waltermann, R., Sozialrecht, 11. Aufl., Heidelberg 2014.
Autor(en): Prof. Dr. Andreas Kranig