Jeder wird bestätigen, dass 2020 ein Ausnahmejahr war. War es das wirklich? Nüchtern betrachtet, erleben wir keine Katastrophe biblischen Ausmaßes, sondern nur einen Warnschuss vor unseren Wohlstandsbug. Diese Ansicht vertritt jedenfalls Helge Müller, Chief-Investment-Officer der Genève Invest in Genf und Luxemburg.
Mit der Spanischen Grippe infizierten sich rund 500 Millionen Menschen, etwa 40 Millionen starben daran weltweit. Wir tun also gut daran, das Jahr 2020 nicht zu dämonisieren, sondern gut zu analysieren. Dazu gehört die Erkenntnis, dass wir unvorbereitet waren. Zehn Jahre ohne schweren Börsenunfall hatten zu Sorglosigkeit geführt. Deshalb konnten uns die Pandemie und ihre Folgen so überraschen.
Bereits am 25. August 2020 ein neues Allzeithoch zu verzeichnen
Dank der Rettungspakete und Stützungsmaßnahmen der Regierungen kam es für Kapitalmarktteilnehmer nicht so schlimm, wie zunächst erwartet. Nachdem der MSCI World Index im Frühjahr im ersten Corona-Schock ein Drittel seines Wertes verloren hatte, markierte er bereits am 25. August 2020 ein neues Allzeithoch.
Die mit den neuen Impfstoffen verbundene Hoffnung scheint die Börse 2021 zu beflügeln. Kurzfristig wird die Weltwirtschaft in den kommenden drei bis zwölf Monaten wohl schwächeln. Die Arbeitslosigkeit steigt und die direkt von der Krise betroffenen Branchen werden mit Verlusten zu kämpfen haben. Das führt dazu, dass die Volatilität an den Finanzmärkten hoch bleibt.
Zinsanhebungen sind nicht zu erwarten
Mittelfristig dominieren in den nächsten ein bis drei Jahren die fiskalpolitischen Anreize. Die Maßnahmen werden ihr Ziel erreichen, das Wachstum zu fördern und die Arbeitslosigkeit zu senken. Zinsanhebungen sind in diesem Zeitraum nicht zu erwarten. Die Folge: Die Kurse von Aktien und bereits emittierten Anleihen werden steigen.
Langfristig werden wir die Folgen des neuen Keynesianismus zu spüren bekommen. Die Ideen des Ökonomen John Maynard Keynes lassen sich kurz so zusammenfassen: Der Staat sorgt durch eine expansive Geldpolitik dafür, dass die Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen steigt. Der Preis dafür ist jedoch hoch: Untersuchungen zeigen, dass der kurzfristige wirtschaftliche Effekt schnell verpufft.
Die Folge: Schleichender Sparverlust
Was übrigbleibt, ist die Inflation mit ihren negativen Auswirkungen. Das führt letztlich zu Finanzrepression: Die Zinsen werden weiterhin niedrig gehalten, trotz steigender Inflation. Die Folge ist schleichender Sparverlust.
Wie können Anleger damit umgehen? Wer in den kommenden zwölf bis 24 Monaten nicht in Aktien investiert, ist selber schuld. Aktien profitieren in dem oben skizzierten Szenario. Wer am Rentenmarkt kein Geld verdienen kann, schichtet in seinem Portfolio von Anleihen in Aktien um. Inflation ist deshalb zunächst positiv für Aktienwerte.
Irgendwann ist die Party leider vorbei. Danach wird es spannend. Bis dahin werden vermutlich noch zwei bis drei Jahre vergehen. Doch wer will nach den Erfahrungen des zurückliegenden Jahres schon vorhersagen, wie die Welt in zwei Jahren aussieht?
Quelle: V-Bank AG
Autor(en): Helge Müller, Chief-Investment-Officer der Genève Invest in Genf und Luxemburg