Die wirtschaftliche und soziale Stärkung der Ukraine erfordere einen langen Atem, sagte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) bei der Ukraine-Wiederaufbaukonferenz in Berlin. "Der Wiederaufbau und die Modernisierung des Landes werden massive Investitionen nötig machen." Die von Russland in der Ukraine bereits jetzt angerichteten Schäden schätzt die Weltbank auf mindestens 486 Milliarden Dollar (rund 446 Milliarden Euro).
Dieses Jahr wächst die ukrainische Wirtschaft trotz des russischen Angriffskriegs voraussichtlich um 6,5 Prozent, nachdem es für 2023 wahrscheinlich eine Wachstumsrate beim Bruttoinlandsprodukt (BIP) in Höhe von 3,2 Prozent gegeben hat, so die Prognose des Internationalen Währungsfonds. Der Treiber für diesen Aufwärtstrend ist die Kriegswirtschaft, also die Waffen- und Munitionsproduktion sowie der Aufbau der durch Russland zerstörten Infrastruktur.
Deutsche Unternehmen sind vorsichtig optimistisch
Doch das Wachstum darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Ukraine den Wiederaufbau nur schwer alleine stemmen kann. Umso besser, dass viele deutsche Unternehmen von einem Aufschwung in dem vom Krieg gebeutelten Land in den nächsten zwölf Monaten ausgehen (42 Prozent).
Zu diesem Ergebnis kommt der "German-Ukrainian Business Outlook", eine Geschäftsklima-Umfrage von KPMG in Deutschland und der Deutsch-Ukrainischen Industrie- und Handelskammer (AHK Ukraine). Dafür wurden rund 142 deutsche Unternehmen Ende April bis Mitte Mai befragt, die bereits in der Ukraine aktiv sind oder eine Expansion dorthin planen. Demnach erwarten zehn Prozent eine wirtschaftliche Verschlechterung, während rund die Hälfte (48 Prozent) keine wesentlichen Veränderungen annehmen.
Ukraine-Investitionen ausbauen
Deutsche Unternehmen eröffnen sich in der Ukraine tatsächlich Chancen in den Bereichen Produktion, Energie, Pharma sowie IT und Outsourcing, so die Einschätzung von Nicolai Kiskalt, Partner und Leiter der Country Practice Central Eastern Europe (CEE) bei KPMG in Deutschland.
Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass mehr als vier von zehn befragten deutschen Unternehmen (43 Prozent) neue Investitionen in der Ukraine bereits in den kommenden zwölf Monaten tätigen wollen. Lediglich acht planen zu deinvestieren.
Wachstumschancen und Potenziale in der Ukraine
Fast jedes zweite deutsche Unternehmen (48 Prozent) sieht den Schritt in den ukrainischen Markt als Geschäftschance. Die Gründe laut KPMG-Umfrage:
- 39 Prozent sehen den Pool an qualifizierten Arbeitskräften als gute Ausgangslage, etwa im MINT-Sektor, so Reiner Perau, Geschäftsführer der AHK Ukraine. Auch dadurch werde das Land zu einem attraktiven Nearshoring-Standort.
- 36 Prozent der Unternehmen wollen die Potenziale wirtschaftlicher Förderprogramme durch die Europäische Union und der Bundesregierung zum Wiederaufbau des Landes nutzen.
- Der hohe Digitalisierungsgrad lock jedes vierte deutsche Unternehmen (28 Prozent), in der Ukraine Fuß zu fassen. Neben der guten digitalen Infrastruktur bietet eine große Anzahl von IT-Spezialisten im Land Möglichkeiten.
Potenzial sieht auch Bundeskanzler Olaf Scholz, etwa bei Erneuerbaren Energien und Wasserstoff, aber auch bei Digitalisierung und IT, Rüstung, Gesundheitstechnologie und Pharma. Trotz des Kriegs habe es "keinen Abfluss deutscher Investitionen" gegeben, betonte Scholz bei der Ukraine-Wiederaufbaukonferenz . "Unser Handelsvolumen ist im Vergleich zur Vorkriegszeit deutlich gestiegen."
Chancen und Risiken des Ukraine-Wiederaufbaus
Doch wie soll der Wiederaufbau in der Ukraine überhaupt funktionieren, während die Bomben weiter fallen?, fragt "Spiegel Online". "Wir wollen als deutsches Unternehmen ein Zeichen in der Ukraine setzen", erklärt Olga Kovalchuk von Goldbek Solar im Gespräch mit dem Portal ihre Auslandsaktivitäten. Und: "Wer als Erster in diesen attraktiven Markt investiert, wird auch am meisten davon profitieren können". Für das deutsche Solarunternehmen überwiegen also die Chancen die Risiken.
Allerdings ist zu beachten, dass bei der Expansion
- Zollverpflichtungen außerhalb des Schengen-Raums entstehen,
- im Zahlungsverkehr die Verwendung der ukrainischen Griwna ansteht,
- die Weite des Landes mit einer komplexeren Infrastruktur logistisch zu bewältigen ist,
- die slawische Sprache mit ihrem kyrillischen Alphabet eine Hürde darstellen kann
- und sich verwaltungstechnische Komplexität der Buchhaltungs- und Steuerpflichten einstellen.
Gewisse Stabilität für Expansion nötig
Auch wenn die Chancen insgesamt vielversprechend klingen, sind die Unternehmensentscheider hierzulande nicht naiv. Ihnen ist bewusst, dass es ein gewisses Maß an politischer und wirtschaftlicher Stabilität bedarf (61 beziehungsweise 51 Prozent), um ihre geschäftlichen Auslandsaktivitäten auszubauen, dokumentiert die KPMG-Umfrage. Auch nennen 59 Prozent den Zugang zu lokalen Unternehmensnetzwerken sowie zu Marktinformationen (54 Prozent) als wesentliche Expansionsvoraussetzung. Mehr als die Hälfte (53 Prozent) sind sich zudem im Klaren, dass der Krieg ein großes Risiko darstellt, insbesondere auch in Hinblick auf die Sicherheit der eigenen Mitarbeitenden (38 Prozent). Daneben belastet für 31 Prozent die lokale Korruption das Auslandsgeschäft.
Wie der Aufbau der Ukraine gelingt
Wie der Aufbau der ukrainischen Wirtschaft erfolgen sollte und welche Bereiche dabei eine wichtige Basis sind, hat die Studie "Ukraine’s Future Competitiveness" vom Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw) gemeinsam mit der Bertelsmann Stiftung erarbeitet.
Auch diese Untersuchung kommt zu dem Ergebnis, dass die ukrainische Wirtschaft großes Potenzial habe. Insbesondere in sechs Bereichen böten sich demnach die besten Chancen, nämlich bei Erneuerbaren Energien, seltenen Rohstoffen, Metallverarbeitung, Maschinenbau, Lebensmittelindustrie und IT.
Die Studie empfiehlt, das Land nach dem Prinzip "Build Back Better" wieder aufzubauen, also Altes nicht einfach wieder zu errichten, sondern in einer besseren Form, so wie es US-Präsident Joe Biden zum Motto seiner Wirtschaftsagenda gemacht hat, um die Vereinigten Staaten nach der Corona-Krise wieder nach vorne zu bringen. In Bezug auf den Wiederaufbau der Ukraine meint das Prinzip nach Ansicht der Forschenden, den Fokus auf die grüne und digitale Transformation der Wirtschaft zu legen.
Dabei könnte die Integration in den EU-Binnenmarkt bereits vor dem Beitritt hilfreich sein, sofern dringend nötige Reformen in den Bereichen Rechtsstaatlichkeit und Korruptionsbekämpfung auf den Weg gebracht werden, so Olga Pindyuk, Ukraine-Expertin des wiiw und Co-Autorin der Studie. Gleichzeitig sei eine Industriepolitik sowie eine Strategie nötig, die ausländische Direktinvestitionen anziehe. Aber auch das Bildungssystem müsse noch verbessert werden.
Folgen des Krieges für Wirtschaft in der Ukraine
Wirtschaftliche Unterstützung aus dem Ausland ist für die Ukraine nicht nur für den Waffenkauf existenziell. So illustriert eine Statista-Grafik anhand von Zahlen des Internationalen Währungsfonds, wie sich die russische und die ukrainische Wirtschaft seit Kriegsbeginn entwickelt haben. Während das Bruttoinlandsprodukt Russlands im ersten Kriegsjahr 2022 nur um 2,1 Prozent gegenüber dem Vorjahr geschrumpft ist, sank das der Ukraine um etwa 29 Prozent.
Auch bei den Ausfuhren musste die Ukraine 2022 sehr viel mehr federn lassen als der russische Aggressor. So sank das Exportvolumen um 45 Prozent deutlich, während es sich in Russland nur um rund sieben Prozent verringerte. Russland profitierte unter anderem von seinen konstanten Exporten großer Öl- und Gasvorräte.
Die Prognosen des IWF gehen für beide Länder in 2023 und 2024 zwar von einer langsamen Besserung der Lage aus. Doch da die Daten die Veränderung zum jeweiligen Vorjahr angeben, würde sich die Ukraine im Vergleich zum sehr schlechten Jahr 2022 nur geringfügig verbessern. Erschwerend hinzu kommt, dass wirtschaftliche Prognosen für 2024 heikel sind, da der Kriegsverlauf unkalkulierbar ist.
Und doch kommt der "Ukraine 2023 Report" der EU vom Winter zu dem Ergebnis, dass die ukrainischen Behörden schnell auf die schweren Rahmenbedingungen reagiert haben und eine bemerkenswerte Widerstandsfähigkeit und Anpassungsfähigkeit zeigen, um die makroökonomische und wirtschaftliche Lage zu bewahren. Die Maßnahmen tragen laut EU zur finanziellen Stabilität des Landes bei, allerdings müssten die Behörden viel Kraft und Ressourcen in die Wiederherstellung stecken.
Dieser Beitrag erschien ursprünglich auf Springer Professional.
Autor(en): Andrea Amerland