Der Chefvolkswirt des Investmenthauses Feri fürchtet, dass eine kompromisslose Brexit-Verhandlungsposition der Europäischen Union gegenüber Großbritannien Nachteile für die EU-Mitglieder bringen werde. Auch Deutschland habe viel zu verlieren, mahnt der Analyst in einem Kommentar:
Kurz vor dem Showdown in den Verhandlungen über die Modalitäten des EU-Austritts Großbritanniens darf an einige Zahlen erinnert werden: Mit einem Anteil von 6,6 Prozent der Gesamtexporte ist Großbritannien für Deutschland der fünftwichtigste Handelspartner, nur knapp hinter China und noch vor Italien und Spanien.
Mehr als ein Drittel der Güterexporte nach Großbritannien sind Fahrzeuge und Fahrzeugteile. Im Jahr 2017 wurden etwa 800.000 Autos nach Großbritannien exportiert - das Land ist damit für die deutsche Autoindustrie einer der wichtigsten Absatzmärkte. Knapp 30 Prozent der Direktinvestitionen in der EU wurden bislang in Großbritannien getätigt - der Anteil ist damit doppelt so hoch, wie es der Wirtschaftsleistung, gemessen am BIP, entspräche.
Beide Seiten haben viel zu verlieren
Die Zahlen zeigen: Sollte Großbritannien ohne vertragliche Regelung der künftigen Beziehungen aus der EU austreten, haben beide Seiten viel zu verlieren. Die Folgen wären für Großbritannien zwar weitaus gravierender, aber auch die übrigen EU-Länder und insbesondere Deutschland müssten mit massiven Störungen im Außenhandel, erheblichen Absatzeinbußen und demzufolge mit spürbaren Auswirkungen auf die wirtschaftliche Dynamik rechnen.
Die derzeitige Verhandlungslinie der EU, wie sie sich auf dem jüngsten Treffen der Staats- und Regierungschefs in Salzburg zeigte, ignoriert diese Tatsache und mutet deshalb befremdlich an: Es mag menschlich verständlich sein, die Briten für die Folgen ihres Brexit-Votums allein verantwortlich zu machen. Ein professioneller Umgang mit dem demokratischen Votum einer knappen Mehrheit der Briten, der nüchtern auch die eigenen Interessen in den Blick nimmt, ist es nicht. Die EU und allen voran Deutschland sind selbst Beteiligte und wären selbst auch Verlierer eines „No-Deal-Brexit“.
EU schießt übers Ziel hinaus
Theresa May hat mit dem Chequers-Plan einen Befreiungsschlag gewagt und ist damit hohe innenpolitische Risiken eingegangen. Die EU muss sich gewiss nicht auf alle darin enthaltenen Vorschläge einlassen. Aber sie sollte, wenn sie ein Interesse an einem positiven Abschluss der Verhandlungen hat, gegebenenfalls auch eigene Alternativmöglichkeiten aufzeigen, statt, wie in Salzburg geschehen, die Premierministerin in aller Öffentlichkeit abblitzen zu lassen und zu demütigen. Ein möglicher Sturz Theresa Mays und die Übernahme der Amtsgeschäfte etwa durch Boris Johnson würde die Lage insgesamt nicht einfacher und das Scheitern der Verhandlungen wahrscheinlicher machen.
Für die EU sind die Verhandlungen mit Großbritannien ein Balanceakt. Auf der einen Seite muss der Eindruck vermieden werden, ein EU-Austritt würde sich lohnen, um mögliche Nachahmer eines EU-Austritts in anderen Ländern oder Regionen abzuschrecken. Auf der anderen Seite sind Zugeständnisse an den Verhandlungspartner im ureigenen Interesse. Deshalb schießt die Forderung der EU, dass Großbritannien alle vier Grundfreiheiten des Binnenmarkts akzeptieren muss, auch deutlich über das Ziel hinaus.
Schadenfreude nützt keinem
KompromUnverständlich ist etwa, dass die EU den Vorschlag von Theresa May, Dienstleistungen aus der Teilnahme am Binnenmarkt auszuschließen, als Rosinenpickerei ablehnt. Denn schließlich würde Großbritannien dadurch den EU-Pass für die Anbieter von Finanzdienstleistungen verlieren, was wiederum mit erheblich negativen Folgen für den Finanzplatz London verbunden wäre. Die Hindernisse für den wechselseitigen Güterverkehr möglichst gering zu halten, ist dagegen im elementaren Interesse der kontinentaleuropäischen Industrie. Das gilt insbesondere für die deutschen Autobauer, die im Handel mit Großbritannien erhebliche Exportüberschüsse erzielen.
Ob bis Mitte November ein vernünftiges Verhandlungsergebnis erzielt werden kann, hängt nicht nur von der EU ab. Sie sollte aber ihren eigenen Beitrag zu einem positiven Ergebnis leisten und muss dafür kooperativer agieren als derzeit. Kompromissbereitschaft hilft bei der Verfolgung eigener Interessen. Das sollte eindeutig wichtiger sein als verdeckte Schadenfreude über die sowieso sichtbaren negativen Folgen des Brexit für die Briten.
Axel D. Angermann ist Chef-Volkswirt der Feri Gruppe. Er verantwortet seit 2008 die von Feri erstellten Analysen und Prognosen für die Gesamtwirtschaft sowie einzelne Branchen. 2002 trat er als Branchenanalyst in das Unternehmen ein. Seine berufliche Karriere begann beim Max-Planck-Institut für Ökonomie und beim Verband der chemischen Industrie. Angermann studierte Volkswirtschaftslehre in Berlin und Bayreuth.
Autor(en): Axel D. Angermann