Die Recherchegesellschaft der "Finanzwende" lässt einen altgedienten Versicherungsvermittler "auspacken". Die Story wirft auch Fragen auf.
Als „Insider Story“ wird von der zur Finanzwende gehörenden Finanzwende Recherche gGmbH ein Bericht über „Teure Wechselkarusselle“ angekündigt. Darin berichtet ein anonym bleibender Versicherungsvermittler, der nach eigenen Angaben im Ruhestand ist und nur noch gelegentlich in seiner alten Agentur mitarbeitet, über fragwürdige Praktiken im Lebensversicherungsvertrieb.
Ihm geht es um Umdeckungen, also die vorzeitige Kündigung von alten Lebensversicherungen, um dem Kunden eine neue Lebensversicherung verkaufen und dabei Abschlussprovision verdienen zu können. Soweit, so nachvollziehbar, dass das oft nicht im Kundeninteresse sein kann.
Sechs Riester-Verträge für zwei Personen
Als „Übeltäter“ werden Finanzvertriebe benannt, „also Leute, die vorwiegend vom Verkauf und den Abschlussprovisionen dafür leben müssen“. Dazu berichtet der anonyme Kronzeuge von einem Ehepaar, das bei einem solchen Vertrieb „einen Haufen Vorsorgeverträge abgeschlossen“ hatte.
Insgesamt habe er sechs Riester-Verträge vorgefunden, die diesem Ehepaar im Lauf der Zeit verkauft wurden. So seien in den Jahren 2012 und 2014 jeweils ein älterer Vertrag des Ehemanns beitragsfrei gestellt und neue abgeschlossen worden, „nach ein paar Jahren“ dann ein dritter Vertrag. Wer die ursprünglichen drei Riester-Verträge verkauft hatte, und warum der Kunde drei Verträge brauchte, wird nicht erklärt.
Sechsmal verdient oder viermal?
Die Ehefrau habe 2016 einen eigenen Riester-Vertrag unterschrieben. 2020 sei vom Ehemann eine Fondspolice aus dem Jahr 2004 beendet und eine Rürup-Rente neu abgeschlossen worden. Insgesamt sei wohl sechs Mal Abschlussprovision an den Vermittler geflossen.
Ein wichtiger Hinweis folgt: „Die Wechselgeschäfte wurden bei dem Ehepaar natürlich auch in keinem einzigen der Beratungsprotokolle festgehalten.“ Auch gibt der Vermittler zu Protokoll, „Und auf Nachteile solcher Wechselgeschäfte wird nach meiner Erfahrung so gut wie nie hingewiesen.“
Abhilfe durch Registrierung der Verträge?
Weiter sollen die Leser wohl über die Motive aufgeklärt werden: „Der Trick an den Wechselkarussellen ist: Wer seinen Kunden viermal hintereinander einen neuen Vertrag verkauft, bekommt viermal so viel.“ Die Kunden seien dabei völlig gutgläubig und erwarteten, das sei alles gut für ihre Altersvorsorge. Insbesondere die Umdeckung von Altverträgen sie oft von Nachteil.
Am Ende hat der Hinweisgeber einen Vorschlag, wie man Umdeckungsgeschäfte zulasten der Kunden vermeiden könnte: „Man müsste nur jeden Altersvorsorgevertrag und jede Veränderung personengebunden registrieren – mit ein paar Eckdaten wie der Vertragsnummer und Versicherungsdauer. Dann würde man auch Änderungen wie die Stilllegung des Vertrags festhalten – und so dem Wechselgeschehen auf die Spur kommen. Im digitalen Zeitalter sollte das eigentlich kein Problem sein.“ Wer ein solches Register führen soll, wird nicht erläutert.
Vier Fragen zur Fallgestaltung und deren Bewertung
Die Fallgestaltung, von der berichtet wird, wirft Fragen auf. Die erste ist, ob es sich um einen außergewöhnlichen Einzelfall handelt, oder ob ein System dahintersteckt. Belege für letzteres werden keine geliefert, sondern nur behauptet.
Die nächste Frage ist, warum die Leserinnen und Leser der Finanzwende-Veröffentlichung nicht über das System der Stornohaftung aufgeklärt werden. In den ersten fünf Vertragsjahren müssen Versicherungsvermittlerinnen und Versicherungsvermittler ihre Provision zeitanteilig zurückzahlen bei vorzeitiger Vertragsbeendigung, so sieht es § 49 VAG vor. Häufiger werden im Markt vertraglich noch längere Stornohaftungszeiten vereinbart.
Die dritte Frage ist, warum sich der Kunde mit seinen vier bis sechs Vertragsumdeckungen nicht an den Versicherungsombudsmann gewendet hat. Denn wenn die Angabe stimmt, dass die Beratungsprotokolle nicht einmal die Tatsache einer Umdeckung erwähnen und auf die damit verbundenen Nachteile eingehen, dann ist das ein typischer Fall für eine Versichererbeschwerde. Der Versicherungsombudsmann berichtet genau darüber immer wieder in seinen jährlichen Tätigkeitsberichten.
Und die vierte Frage muss erlaubt sein, warum sich der Kunde in dieser Geschichte anscheinend nie mit den Produktinformationsblättern befasst hat, die ihm bei jedem neuen Vertragsvorschlag vorgelegt worden sein müssten. Denn darin steht, mit welchen – neuen – Abschluss- und Vertriebskosten er belastet wird. Eine gewisse Eigenverantwortung gehört mit dazu, wenn man wie in der Insider-Geschichte dargestellt, der Kunde „nur eine ordentliche Altersvorsorge“ haben will. Sich dabei auf fehlendes Verständnis der Materie zu berufen, ist zu kurz gesprungen.
Wettbewerbsrichtlinien sahen früher striktes Verfahren vor
Übrigens: Früher war in den sogenannten Wettbewerbsrichtlinien der Versicherungswirtschaft vorgeschrieben, für den Fall der als „Ausspannung“ bezeichneten Umdeckung von Lebensversicherungen, dass die Versicherer folgende Klausel in Vertreterverträge aufzunehmen hatten: „Die Ausspannung von Versicherungen und der Versuch der Ausspannung sind unzulässig. Für durch Ausspannung gewonnene Versicherungen besteht kein Anspruch auf irgendeine Vergütung; etwa empfangene Vergütungen sind zurückzugewähren.“
Außerdem wurde empfohlen, in Antragsformularen folgenden Hinweis aufzunehmen: „Die Aufgabe einer bestehenden Versicherung zum Zweck des Abschlusses einer Versicherung bei einem anderen Unternehmen ist für den Versicherungsnehmer im Allgemeinen unzweckmäßig und für beide Unternehmen unerwünscht.“
Heute weichgespülte Vorgabe
Solche Ausspannungen waren auf Verlangen des Kunden rückgängig zu machen, nach Möglichkeit in einem einvernehmlichen Verfahren zwischen den beteiligten Versicherern, ansonsten durch Schlichtung über den damaligen Verband der Lebensversicherungsunternehmen.
Diese Vorschriften wurden 2006 aus den Wettbewerbsrichtlinien gestrichen. Heute heißt es nur noch, dass Ausspannungen unterbleiben sollen, weil sie „in der Regel mit Nachteilen“ für den Kunden verbunden ist. Unzulässig sei sie, wenn sie mit unlauteren Mitteln betrieben wird, was insbesondere vorliegt, wenn „eine nach den Umständen erforderliche Aufklärung über die mit der Vertragsbeendigung verbundenen Nachteile unterblieben ist“.
Der Grund für diese starke Verkürzung der Vorgaben: Anfang der 2000er Jahre war man der Meinung, dass sich die alten Bestimmungen nicht mehr mit dem Wunsch nach mehr Wettbewerb um die Kunden vereinbaren lassen. Damit wollte man auch den Kunden einen Nutzen bieten. Hier müssten sich Politik und Gesellschaft einmal neu einigen, was ihnen wichtiger ist: Viel Wettbewerb, Auswahl und damit günstige, gute Verträge für den aktiven Kunden, der sich informiert und entschlossen handelt – oder lieber kein Wettbewerb, und dass Kunden auch an Verträgen, die Verbraucherschützer schlecht finden, jahrzehntelang festhalten, damit sie ihren ursprünglichen Zweck auch tatsächlich erreichen können. Beides gleichzeitig geht nicht.
Autor(en): Matthias Beenken