Alle reden von der Digitalisierung und wie schwer man sich hierzulande damit tut. Der Grund für den zögernden Aufbruch ins Neuland liegt in einem veralteten Organisationsmodell der Unternehmen, das aus dem letzten Jahrhundert stammt, sagt Anne M. Schüller. Sie hat mit dem Orbit-Modell eine Vision entwickelt, mit deren Hilfe sich Unternehmen für die digitale Zukunft rüsten können. Versicherungsmagazin sprach mit der Autorin.
Immer mehr Arbeitnehmer fürchten, durch die Digitalisierung ihre Jobs zu verlieren. Sie vertreten dagegen in Ihrem Buch die Ansicht: "KI kann die Kraft zwischenmenschlicher Beziehungen niemals ersetzen, sondern nur unterstützen". Können Sie dies mit einem Beispiel erläutern?
Anne M. Schüller: Tendenziell geht die Entwicklung vom klassischen Sales- und Servicedialog hin zur Interaktion mit künstlichen Intelligenzen (KI). Dabei werden Call Center, KI und CRM immer enger zusammenarbeiten. So werden gut trainierte Sprachbots ihre Arbeit bald besser machen als schlecht ausgebildetes Personal. Sie werden unglaublich viel über uns wissen, unsere Emotionen erkennen, Kontext verstehen, unsere Wünsche decodieren. Personality Designer bringen ihnen bei, sympathisch zu wirken, ausgesucht höflich zu reagieren und in jeder Situation den richtigen Ton zu treffen. In vielen Situationen wird der direkte Kundenkontakt dann nicht mehr gebraucht. Aber wenn wir ihn brauchen, dann muss er außergewöhnlich sein. "Sie sprechen jetzt mit einem Menschen" muss zu einem Qualitätsmerkmal werden. Wer seine Mitarbeiter komplett durch Chatbots ersetzt, riskiert, dass er Kunden verliert. Die menschliche Komponente bleibt auch in Zukunft von hoher Bedeutung. Das gilt besonders für den beratungsintensiven Vertrieb.
Sie sprechen vom Purpose eines Unternehmens. Was ist der Unterschied zum USP?
Der USP ist das Alleinstellungsmerkmal bezogen auf die Produkte und Services eines Anbieters. Der Purpose hingegen ist der Daseinssinn, der Wesenskern, das Warum des gesamten Unternehmens. Idealerweise beinhaltet er ökonomische, ökologische und soziale Aspekte. Das hat mit den Leitbildern von früher, oft auch Vision oder Mission Statement genannt, nur noch wenig zu tun. Klassische Leitbilder sind nämlich nach innen, der Zweck eines Unternehmens hingegen ist nach außen gerichtet. Zunehmend wollen die Menschen heute wissen, welches Unternehmen hinter einem Angebot steckt, was es antreibt, wie es mit seinen Kunden und Mitarbeitern umgeht und welche ethische Haltung es glaubhaft vertritt. Sie verlangen nach einer Vereinbarkeit von Profitstreben und Nachhaltigkeit.
Viele Inhaber eines Vermittlerbetriebs sind schon über 50 und haben wenig Erfahrung mit der digitalen Welt. Haben sie überhaupt noch eine Chance, ihr Unternehmen neu zu organisieren?
Ja, natürlich. Das ist keine Frage des Alters, sondern eine Frage des Wollens. Um dann zur Tat zu schreiten, holt man sich am besten ein paar technikaffine junge Menschen ins Haus, die einen beim Digitalisieren unterstützen. Größeren Unternehmen empfehle ich das Reverse Mentoring. Hierbei coacht der Junior den Senior auf solchen Themengebieten, die „Jung“ besser kann als „Alt“. Vornehmliches Ziel ist es, die digitale Fitness im gesamten Unternehmen zu erhöhen, altgewohnte Kommunikations- und Arbeitsweisen an die Erfordernisse von heute und morgen anzupassen und Ältere mit der Lebenswelt der Millennials vertraut zu machen.
Ist Ihr Organisationsmodell auch auf kleine Unternehmen anwendbar?
Überall da, wo Mitarbeiter zu führen sind, ist es relevant. Seine ganze Wirkungskraft entfaltet es ab einer Unternehmensgröße von etwa 50 Personen.
Anne M. Schüller ist Managementdenker, Keynote-Speaker, mehrfach preisgekrönte Bestsellerautorin und Businesscoach. Die Diplom-Betriebswirtin gilt als Expertin für das Touchpoint Management und eine kundenfokussierte Unternehmensführung. 2015 wurde sie für ihr Lebenswerk in die Hall of Fame der German Speakers Association aufgenommen. Ihr Touchpoint Institut bildet zertifizierte Touchpoint Manager aus. www.anneschueller.de
Über das Buch
Um bahnbrechend neue Geschäftsideen zu entwickeln, braucht es eine passende organisationale Struktur. Hier setzt das Orbit-Modell an. Als Organisationsinnovation propagiert es den Übergang von einer aus der Zeit gefallenen pyramidalen zu einer zukunftsweisenden zirkulären Unternehmensorganisation. In neun Schritten zeigt es den Weg von einer auf Effizienz getrimmten veralteten Arbeitswelt zu einer lebendigen Innovationskultur, die sich adaptiv, antizipativ und agil auf die Erfordernisse der neuen Zeit einstellen kann. Kundenzentrierung spielt dabei eine herausragende Rolle. Sie wird zur Nummer eins der künftigen Unternehmensaufgaben. Denn wer durchstarten will, braucht nicht nur neue Führungskonzepte. Er muss sich auch radikal auf die Seite des Kunden stellen.
Das Orbit-Modell stellt den Kunden sichtbar in den Mittelpunkt. Es ist zudem das erste Modell, das die zunehmend notwendigen Brückenbauer-Rollen gezielt integriert. Denn Transformation bedeutet immer auch Transition, also Übergang. Hierfür werden Menschen gebraucht, die Wege ins Neuland ebnen und Verbindungen schaffen zwischen Drinnen und Draußen sowie zwischen menschlicher und künstlicher Intelligenz.
Praxisorientiert und anhand vieler Beispiele werden die positiven Effekte beschrieben, die das Modell auf sämtliche Unternehmensbereiche hat. Das Ergebnis? Eine Organisation, die für die digitale Zukunft hervorragend aufgestellt ist: zugleich hochrentierlich und zutiefst human.
Anne M. Schüller, Alex T. Steffen
Die Orbit-Organisation
In 9 Schritten zum Unternehmensmodell für die digitale Zukunft
Gabal Verlag 2019, 312 Seiten
ISBN: 978-3869368993
Autor(en): Alexa Michopoulos