Beim 39. Münsterischen Versicherungstag ging es unter anderem um die Rechte der Versicherungsaufsicht, aber auch um die Überforderung der Gerichte durch Massenklagen.
Bis zuletzt gezittert hatte die Leiterin des schon 39. Münsterischen Versicherungstags, Professorin Petra Pohlmann (Foto), ob die Veranstaltung trotz der ansteigenden Corona-Infektionszahlen in Präsenz stattfinden kann, so der Rektor der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, Professor Johannes Wessels. Themen jedenfalls gab es genug, die die anwesenden Juristen aus der Versicherungsbranche, Anwaltskanzleien, Gerichten und der Wissenschaft im persönlichen Kontakt zu diskutieren hatten.
Völlige Handlungsfreiheit für die BaFin?
Sehr kritisch setzten sich zum Beispiel Rechtsanwalt Jan Schröder und der Düsseldorfer Verfassungsrechtler Professor Lothar Michael mit einem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zur Missstandsaufsicht durch die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) auseinander. „Gibt es eigentlich irgendwelche Grenzen für die BaFin, oder eine Art Carte blanche?“, fragte Schröder. In dem mehrstufigen Verfahren, das möglicherweise auch noch beim Europäischen Gerichtshof landen könnte, ging es eigentlich um eine eher bedeutungslose Sache.
Die BaFin hatte von österreichischen Versicherern verlangt, deren Beschwerdeberichte in Deutschland vorzulegen, obwohl sie das bereits schon gegenüber ihrer Heimataufsicht tun. Schröder hob hervor, dass es gar keinen konkreten Anhaltspunkt für Probleme in der Beschwerdebearbeitung durch diese Versicherer gab.
Durch das Bundesverwaltungsgericht sei die Aufgabe der „Wahrung der Belange der Versicherten“ überdehnt und der BaFin ein theoretisch sehr weiter Spielraum eingeräumt worden, mit dieser Begründung gegen Versicherer vorzugehen. Die Gerichte würden sich selbst geradezu überflüssig machen, die Gewaltentrennung nicht mehr hinreichend gewährleistet. „Ein milderes Mittel wäre eine einfache Nachfrage bei der österreichischen Aufsicht gewesen“.
Pest oder Cholera beim Umgang mit Vorschriften
Schröder nutzte dies zu einer Generalkritik an der Vermischung von risiko- und regelbasierter Aufsicht, die sich zunehmend durch eine Umsetzung europäischen Rechts findet, durch die die Unternehmen zunehmend im Regen stehen – verlassen sie sich auf die national gesetzten Regeln, kann ihnen der Vorwurf gemacht werden, nicht ausreichend auf die Prinzipien geachtet zu haben. Interpretieren sie die Prinzipien in eigener Verantwortung, setzen sie sich umgekehrt dem Verdacht aus, dabei nationale Regeln zu missachten. Jedenfalls aus Sicht von Investoren, so Schröder, sei das regulatorische Risiko einer Geschäftstätigkeit in Deutschland sehr hoch. Dabei plädierte er keineswegs für „eine laschere Aufsicht“. Aber verlässlich müsse sie sein.
Michael ergänzte, dass das Verfahren zeige, wie unklar die im Versicherungsaufsichtsgesetz geforderte Überwachung der Versicherer bezüglich der „Einhaltung der Gesetze“ sei. Hier träfen eine Gesetzesbindung auf eine Unionsrechtsbindung und das Ganze dann auch noch auf eine Bindung an die Verfassung.
Massenklagen legen Gerichte lahm
In der Rechtsprechungspraxis gibt es noch ganz andere Sorgen, die der Vorsitzende Richter am Oberlandesgericht Düsseldorf, Michael Kneist, in einem mit vielen persönliche Beispielen farbigen Abriss zum Problem Massenschäden gab. Laut Titel der Paneldiskussion ging es um die Wirkung auf die Rechtsschutzversicherung, aber tatsächlich wurden grundlegende Probleme im deutschen Rechtssystem deutlich.
Massenklagen, so Kneist, seien etwa seit den 1990er Jahren üblich und geradezu ein Geschäftsmodell für einzelne Rechtsanwaltskanzleien geworden. Angefangen mit nicht rentierlichen Kapitalanlagen über Schrottimmobilien, die immer noch laufenden Klagen gegen die Göttinger Gruppe, Telekom, englische Lebensversicherungen, Darlehenswiderrufe, ewiges Widerrufsrecht, Diesel-Skandal und zuletzt die Beitragsanpassungen in der privaten Krankenversicherung zählte der Richter auf.
An seinem Gericht machten solche Verfahren bereits ein Drittel aller anhängigen Verfahren aus, ein zusätzlicher Senat musste eröffnet werden. Ein Richter schaffe etwa 70 bis 80 Verfahren im Jahr, aber es seien zum Beispiel allein rund 1.500 Verfahren zu Volkswagen-Dieselautos oder über 1.600 Widerrufe von Darlehen gegen nur eine einzige Bank anhängig.
Anwälte und Versicherer könnten aufeinander zugehen
Spaß mache das keinen, machte Kneist deutlich. Die Richterschaft verlange deshalb vom Gesetzgeber, Nachbesserungen beim Verbandsklagerecht vorzunehmen. Auch die Rechtsschutzversicherer leiden unter den Klagefluten, machte Till Humpe von der Arag Versicherung deutlich. Allein der Abgasskandal habe schon mehr als eine Milliarde Euro gekostet, und das Zehnfache davon stehe an Streitwerten im Raum. 340.000 Kunden seien betroffen. Das zahlen am Ende alle Versicherten.
Leider handele es sich trotz der hohen Zahl stets um Einzelfälle, die sich nicht vereinfacht serienmäßig abarbeiten lassen. Sein Haus beobachte rund 100 weitere Fälle, die das Potenzial hätten, zu Massenschäden zu werden. Auffällig seien „überregional tätige, stark digitalisierte, automatisierte Kanzleien“, die per Internetwerbung Mandanten einwerben.
Rechtsanwalt Knut Pilz dagegen verwahrte sich gegen einen Generalverdacht, den Anwälten gehe es nur um Gewinnmaximierung. Er nannte eine Reihe Beispiele, in denen die Versicherer ihrerseits mehr tun könnten, um teure und überlange Verfahren zu vermeiden.
Parametrische Versicherungen nicht nur in Entwicklungsländern
Der Münsterische Versicherungstag sieht meist nicht nur rechtliche, sondern auch andere Praxisthemen der Branche vor. Der Agrarwissenschaftler Leif Heimwarth von der Hannover Rück gab einen Überblick über indexbasierte beziehungsweise parametrische Versicherungen. Haupteinsatzfeld ist die Landwirtschaft, die von Naturereignissen und Schwankungen in der Regenmenge und Ertragskraft betroffen ist.
Verbreitet sind sie in Schwellen- und Entwicklungsländern. Dort seien traditionelle, Schaden-basierte Versicherungen weniger einfach umsetzbar, zum Beispiel weil lokale Schadenregulierer fehlen sowie weil es um außerordentlich kleine Versicherungssummen geht.
Eindrucksvoll zeigte er, wie genau per Satellitenüberwachung regionale Daten erhoben werden können, zum Beispiel sogar die Bodenfeuchte und die Vitalität von Pflanzen. Die Genauigkeit sei wesentlich höher als diejenige von lokalen Wetterstationen, auch die Betrugsanfälligkeit sei weitaus geringer. Laut Heimwarth gibt es mittlerweile zunehmend Nachfrage nach solchen Versicherungskonstrukten auch in entwickelten Ländern. Noch seien parametrische Versicherungen ein Nischengeschäft der Rückversicherer, aber Wachstumspotenzial bestehe.
Autor(en): Matthias Beenken