Die "Bürgerversicherung" dürfte kaum mehr ein entscheidendes Wahlkampfthema sein. Dafür geht es der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) derzeit zu gut. Angesichts von Milliardenüberschüssen glaubt wohl kaum ein Wähler ernsthaft, dass unmittelbarer Reformbedarf besteht. Auch verunsichern aktuell Meldungen über mögliche Missbräuche im GKV-System die Öffentlichkeit - eine deutliche Mahnung, welches Erpressungspotenzial in einem System entstehen kann, wenn der Wettbewerb abgeschafft wird. Insofern verfängt die These des linken Parteienspektrums immer weniger, dass es eine Frage der Solidarität und der Gerechtigkeit sein soll, ein Monopol der Gesundheitsfinanzierung durch eine Bürgerversicherung zu schaffen.
Demonstrationen in Berlin
Dazu sind auch die Antworten zu dünn, die die Parteien bisher zu Transferszenarien und deren Folgen bieten. Die Betriebsräte der privaten Krankenversicherer, die um ihre Arbeitsplätze fürchten, kritisierten die SPD bereits mehrfach öffentlich dafür, dass sie sich Gesprächen entziehen oder allenfalls allgemeine Floskeln bereit halten, wonach man sich auch um das Problem der Arbeitsplätze noch kümmern wolle.
Anfang der Woche mobilisierte die Betriebsratsinitiative erneut Mitarbeiter, vor den Parteizentralen der SPD und der Grünen gegen die Bürgerversicherung und für eine Erhaltung des zweigliedrigen Krankenversicherungssystems zu demonstrieren. Auf Fahrzeugen angebrachte Großplakate mit Slogans wie unter anderem „Nein danke, Andrea“, gerichtet an SPD-Bundesgeschäftsführerin Nahles, wurden den Angaben zufolge vor den Parteizentralen postiert.
Gewerkschaftsnahes Institut sieht hohe Arbeitsplatzverluste
Die Betriebsräte legten zudem Ergebnisse von Hochrechnungen vor, wie viele Arbeitsplätze ihrer Ansicht nach durch eine Bürgerversicherung in den verschiedenen Regionen gefährdet sind. Dazu verwendeten sie die Zahlen des Gutachtens, das der Journalist und Gesundheitsfachmann Paquet für die Hans-Böckler-Stiftung erstellt hatte. Danach könnten bis zu rund 90.000 Arbeitsplätze bei Krankenversicherungsunternehmen, Vermittlerbetrieben und Beihilfestellen entfallen, so seine Schätzung.
Den größten Anteil haben die bis zu 50.000 Beschäftigten der Versicherungsunternehmen, aber auch mehr als 10.000 selbstständige Vermittler und 17.000 Angestellte in Agentur- und Maklerbetrieben wurden von Paquet eingerechnet. Ein Ersatz durch Aufstockungen bei Krankenkassen oder durch vermehrtes Geschäft mit Krankenzusatzversicherungen hatte Paquet dagegen als illusorisch eingeordnet, zumal das linke Parteienspektrum tendenziell auch die Chancen auf private Zusatzversicherungen eher beschneiden will.
NRW mit 25.000 Arbeitsplatzverlusten vorn
Das Kalkül ist offensichtlich, auch die Bundesländer zu sensibilisieren, welche Probleme sie sich mit einer solchen Reform des Gesundheitswesens einhandeln. Hauptbetroffen ist nach den Schätzungen der Betriebsräte Nordrhein-Westfalen, das in den betroffenen Regionen Rheinland und Ruhrgebiet ohnehin schon mit überdurchschnittlicher Arbeitslosigkeit und größeren Verlusten wie der geplanten Schließung des Opel-Werks in Bochum zu kämpfen hat. NRW müsste mit dem Verlust von knapp 25.000 Arbeitsplätzen rechnen.
Bayern folgt mit rund 13.500 betroffenen Arbeitsplätzen vor Baden-Württemberg (8.500), Niedersachsen (5.500) und Rheinland-Pfalz (5.000). Auch Hessen muss sich danach auf 4.000, Sachsen auf 2.500, Hamburg auf 2.300 und Berlin auf 2.000 zusätzliche Arbeitslose einstellen. Die weiteren Zahlen (gerundet): Schleswig-Holstein (1.700), Brandenburg, (1.500), Sachsen-Anhalt (1.400), Thüringen (1.300), Saarland (1.200), Mecklenburg-Vorpommern (1.000) und Bremen (400).
Künftig Do it yourself in der Arztpraxis?
Der BVNF Bundesverband niedergelassener Fachärzte macht ebenfalls mobil und nennt in einer Broschüre noch höhere Zahlen. Er geht sogar von 120.000 gefährdeten Arbeitsplätzen aus. Dabei zählt der Verband neben den von Paquet errechneten Verlusten weitere rund 50.000 Beschäftigte im Gesundheitswesen hinzu.
"Durch steigende Lohnnebenkosten ist ein großflächiger Stellenabbau besonders in personalintensiven Branchen zu erwarten." Das betreffe vor allem die Arztpraxen. "Willkommen in der Do-it-Yourself-Praxis!", heißt es dazu mit Blick auf die Verhältnisse, die die Ärzte zumindest dann befürchten müssen, wenn der Verlust der Privatliquidation nicht durch höhere Vergütungen der GKV ausgeglichen wird. Denn: elf Prozent der Versicherten - Privatversicherte - würden 25 Prozent der Umsätze der Praxen ausmachen. Das seien umgerechnet allein etwa 5,5 Milliarden Euro insgesamt oder 43.000 Euro pro Praxis und Jahr, die Praxen von Privatversicherten relativ mehr einnehmen als von Kassenpatienten. Der Verband schätzt, dass ein Viertel dieses Verlustes durch Abbau von Arbeitsplätzen im Bereich der Arzthelfer kompensiert werden dürfte. Auch ein Abbau von kostenintensiven Geräten sei zu erwarten.
Einheitssystem fördert Zwei-Klassen-Medizin
Der BVNF warnt vor allem davor zu glauben, dass eine Bürgerversicherung die Zwei-Klassen-Medizin verhindern könne, wie es von den linken Parteien behauptet werde. Vielmehr fördere sie diese sogar, weil sich aus dem staatlichen Einheitssystem die wirklich Reichen herauskaufen und sich ausschließlich auf eigene Kosten behandeln lassen werden.
Weiter argumentiert er, dass eine Anhebung oder gar Abschaffung der Beitragsbemessungsgrenzen, wie sie von den drei Parteien SPD, Grüne und Linkspartei unterschiedlich vorgeschlagen werden, der Wirtschaft einen Anstieg der Lohnnebenkosten in einer Größenordnung von fünf bis acht Milliarden Euro bescheren dürfte. Damit könnten allerdings rein rechnerisch die Verluste der Ärzte durch Anhebung der Vergütungen durch die Bürgerversicherung ausgeglichen werden - wenn nicht nach einem Lohnkostenschub Arbeitsplätze in der Wirtschaft ab gebaut oder ins Ausland verlagert werden. "Besonders betroffen sind also gerade diejenigen Unternehmen, die Deutschlands internationale Wettbewerbsfähigkeit auch in Zukunft garantieren sollen."
Demonstrationen in Berlin
Dazu sind auch die Antworten zu dünn, die die Parteien bisher zu Transferszenarien und deren Folgen bieten. Die Betriebsräte der privaten Krankenversicherer, die um ihre Arbeitsplätze fürchten, kritisierten die SPD bereits mehrfach öffentlich dafür, dass sie sich Gesprächen entziehen oder allenfalls allgemeine Floskeln bereit halten, wonach man sich auch um das Problem der Arbeitsplätze noch kümmern wolle.
Anfang der Woche mobilisierte die Betriebsratsinitiative erneut Mitarbeiter, vor den Parteizentralen der SPD und der Grünen gegen die Bürgerversicherung und für eine Erhaltung des zweigliedrigen Krankenversicherungssystems zu demonstrieren. Auf Fahrzeugen angebrachte Großplakate mit Slogans wie unter anderem „Nein danke, Andrea“, gerichtet an SPD-Bundesgeschäftsführerin Nahles, wurden den Angaben zufolge vor den Parteizentralen postiert.
Gewerkschaftsnahes Institut sieht hohe Arbeitsplatzverluste
Die Betriebsräte legten zudem Ergebnisse von Hochrechnungen vor, wie viele Arbeitsplätze ihrer Ansicht nach durch eine Bürgerversicherung in den verschiedenen Regionen gefährdet sind. Dazu verwendeten sie die Zahlen des Gutachtens, das der Journalist und Gesundheitsfachmann Paquet für die Hans-Böckler-Stiftung erstellt hatte. Danach könnten bis zu rund 90.000 Arbeitsplätze bei Krankenversicherungsunternehmen, Vermittlerbetrieben und Beihilfestellen entfallen, so seine Schätzung.
Den größten Anteil haben die bis zu 50.000 Beschäftigten der Versicherungsunternehmen, aber auch mehr als 10.000 selbstständige Vermittler und 17.000 Angestellte in Agentur- und Maklerbetrieben wurden von Paquet eingerechnet. Ein Ersatz durch Aufstockungen bei Krankenkassen oder durch vermehrtes Geschäft mit Krankenzusatzversicherungen hatte Paquet dagegen als illusorisch eingeordnet, zumal das linke Parteienspektrum tendenziell auch die Chancen auf private Zusatzversicherungen eher beschneiden will.
NRW mit 25.000 Arbeitsplatzverlusten vorn
Das Kalkül ist offensichtlich, auch die Bundesländer zu sensibilisieren, welche Probleme sie sich mit einer solchen Reform des Gesundheitswesens einhandeln. Hauptbetroffen ist nach den Schätzungen der Betriebsräte Nordrhein-Westfalen, das in den betroffenen Regionen Rheinland und Ruhrgebiet ohnehin schon mit überdurchschnittlicher Arbeitslosigkeit und größeren Verlusten wie der geplanten Schließung des Opel-Werks in Bochum zu kämpfen hat. NRW müsste mit dem Verlust von knapp 25.000 Arbeitsplätzen rechnen.
Bayern folgt mit rund 13.500 betroffenen Arbeitsplätzen vor Baden-Württemberg (8.500), Niedersachsen (5.500) und Rheinland-Pfalz (5.000). Auch Hessen muss sich danach auf 4.000, Sachsen auf 2.500, Hamburg auf 2.300 und Berlin auf 2.000 zusätzliche Arbeitslose einstellen. Die weiteren Zahlen (gerundet): Schleswig-Holstein (1.700), Brandenburg, (1.500), Sachsen-Anhalt (1.400), Thüringen (1.300), Saarland (1.200), Mecklenburg-Vorpommern (1.000) und Bremen (400).
Künftig Do it yourself in der Arztpraxis?
Der BVNF Bundesverband niedergelassener Fachärzte macht ebenfalls mobil und nennt in einer Broschüre noch höhere Zahlen. Er geht sogar von 120.000 gefährdeten Arbeitsplätzen aus. Dabei zählt der Verband neben den von Paquet errechneten Verlusten weitere rund 50.000 Beschäftigte im Gesundheitswesen hinzu.
"Durch steigende Lohnnebenkosten ist ein großflächiger Stellenabbau besonders in personalintensiven Branchen zu erwarten." Das betreffe vor allem die Arztpraxen. "Willkommen in der Do-it-Yourself-Praxis!", heißt es dazu mit Blick auf die Verhältnisse, die die Ärzte zumindest dann befürchten müssen, wenn der Verlust der Privatliquidation nicht durch höhere Vergütungen der GKV ausgeglichen wird. Denn: elf Prozent der Versicherten - Privatversicherte - würden 25 Prozent der Umsätze der Praxen ausmachen. Das seien umgerechnet allein etwa 5,5 Milliarden Euro insgesamt oder 43.000 Euro pro Praxis und Jahr, die Praxen von Privatversicherten relativ mehr einnehmen als von Kassenpatienten. Der Verband schätzt, dass ein Viertel dieses Verlustes durch Abbau von Arbeitsplätzen im Bereich der Arzthelfer kompensiert werden dürfte. Auch ein Abbau von kostenintensiven Geräten sei zu erwarten.
Einheitssystem fördert Zwei-Klassen-Medizin
Der BVNF warnt vor allem davor zu glauben, dass eine Bürgerversicherung die Zwei-Klassen-Medizin verhindern könne, wie es von den linken Parteien behauptet werde. Vielmehr fördere sie diese sogar, weil sich aus dem staatlichen Einheitssystem die wirklich Reichen herauskaufen und sich ausschließlich auf eigene Kosten behandeln lassen werden.
Weiter argumentiert er, dass eine Anhebung oder gar Abschaffung der Beitragsbemessungsgrenzen, wie sie von den drei Parteien SPD, Grüne und Linkspartei unterschiedlich vorgeschlagen werden, der Wirtschaft einen Anstieg der Lohnnebenkosten in einer Größenordnung von fünf bis acht Milliarden Euro bescheren dürfte. Damit könnten allerdings rein rechnerisch die Verluste der Ärzte durch Anhebung der Vergütungen durch die Bürgerversicherung ausgeglichen werden - wenn nicht nach einem Lohnkostenschub Arbeitsplätze in der Wirtschaft ab gebaut oder ins Ausland verlagert werden. "Besonders betroffen sind also gerade diejenigen Unternehmen, die Deutschlands internationale Wettbewerbsfähigkeit auch in Zukunft garantieren sollen."
Autor(en): Matthias Beenken