Ist Versicherung (noch) solidarisch?

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Ein alter und doch topaktueller Streit zwischen diversen Disziplinen entzündet sich an der Frage, ob sich Versicherungen durch Kollektive oder durch individuelle Verträge auszeichnen. Der oberste Verbraucherschützer Deutschlands kritisierte die Branche dafür, die Idee der Solidarität aufgegeben zu haben, musste sich aber auch vorhalten lassen, zu diesem Trend selbst beigetragen zu haben.

Versicherungen stellen einen Risikoausgleich im Kollektiv und in der Zeit dar, so eine gängige Definition. Kollektiv bedeutet, dass Kunden füreinander einstehen, die für sich allein mit den Risiken überfordert wären. Das wird jedenfalls in der Sozialversicherung als Solidarprinzip bezeichnet. Insbesondere von vielen Juristen wird bezweifelt, ob es dieses Prinzip einer Gefahrengemeinschaft im juristischen Sinn auch in der Privatversicherung gibt. Stattdessen gebe es einzelne Versicherungsverträge zwischen Kunden und Versicherern, die individuelle Ansprüche begründen. Die gegenteilige Position, die auch von Versicherungsökonomen vertreten wird, kam auch zur Sprache. Nur die Gemeinschaft und damit auch eine Einigung auf ein gemeinschaftliches Verhalten, also zum Beispiel die Beachtung von Obliegenheiten, ermöglichen überhaupt die Versicherungsidee.

Rücksichtlosigkeit passt nicht zur Versicherungsidee
Dieser auf den ersten Blick akademische Streit wurde auf der Jahrestagung des Deutschen Vereins für Versicherungswissenschaft erneut ausgetragen. Dabei ist der Konflikt brandaktuell. Denn folgt man der Ansicht, dass Kollektiv und damit Solidarität in der Privatversicherung eine Illusion, ein Marketing-Gag ist, dann gibt es keinen Grund, nicht rücksichtlos zu Lasten anderer Kunden Forderungen zu stellen. Diesen Vorwurf musste sich beispielsweise Klaus Müller anhören, Vorstand des Verbraucherzentrale Bundesverband. Durch die von Verbraucherschützern geforderte Bevorzugung einzelner Lebensversicherungskunden , deren Verträge aktuell auslaufen und einen rechtlichen Anspruch auf Beteiligung an flüchtigen Bewertungsreserven haben, werden andere Kunden benachteiligt.

Zuvor aber teilte Müller aus und kritisierte die Branche dafür, dass sie das Versicherungsprinzip zunehmend aushebele. Fragmentierung der Kollektive hieß das Stichwort, dass Müller an Beispielen wie der wachsenden Zahl von Berufsgruppen in der Berufsunfähigkeitsversicherung oder an der Bevorzugung von Neukunden gegenüber Bestandskunden aufzeigte. Dadurch würden immer mehr Menschen von bezahlbarem Versicherungsschutz ausgeschlossen.

Wahlfreiheit reduziert sich auf Zusatzdeckungen

Sein Verband fordert daher, dass der Gesetzgeber Basisfinanzdienstleistungen beispielsweise in Bereichen wie Privathaftpflicht, Berufsunfähigkeit oder Elementarschadenversicherung definiert. Diese sollten zudem nach dem All-Risk-Prinzip funktionieren. „Das Prinzip der benannten Gefahren ist ein Übel“, brandmarkte er Differenzierungen bei Leistungen und unübersichtlich lange Listen an Einschlüssen. „Selbst für ein so einfaches Produkt wie Privathaftpflicht brauche ich mindestens ein oder sogar mehrere Vergleichsprogramme“, kritisierte Müller. Die Wahlfreiheit der Kunden reduziert sich bei dem Modell auf Zusatzdeckungen.

Weiter warnen die Verbraucherzentralen vor den Gefahren der ständigen Überwachung, wie sie durch die Telematik oder durch „Lifelogging“, also die ständige Übermittlung von Gesundheitsdaten, bedeutet. Dabei kritisierte Müller ausdrücklich nicht die Innovation, sondern befürchtete einen „Prozess der Sozialkontrolle“, durch den sich zunehmend vor allem weniger vermögende Kunden nicht verweigern können, an solchen Verhaltensüberwachungen teilzunehmen.

Kunden sind finanzrational
Wie positiv dagegen gerade die Fragmentierung und damit genauere Tarifierung von Einzelrisiken ist, machte Dr. Guido Bader deutlich, Vorstand der Stuttgarter Versicherungen. Eindrucksvoll waren vor allem Erkenntnisse aus seinem Haus über die Antiselektion, die durch Unisex und damit durch eine scheinbar besonders solidarische Maßnahme entstanden ist. Die vermeintlich vorsichtigen Schätzungen, wie viel mehr Frauen von den für sie günstigeren Renten- und Männer von den günstigeren Risikoversicherungen angesprochen werden, waren teilweise gar nicht ausreichend. „Man sollte die Finanzrationalität der Kunden nicht unterschätzen“, so sein Fazit. Und: „ich muss fragmentieren, sonst werde ich gnadenlos antiselektiert“.

Produktentwicklungsprozess durch Standards verbessern?
In einem zweiten Schwerpunktthema ging es um die Regulierung der Branche und des Vertriebs. Beatrice Freiwald von der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht gab einen für die Zuhörer zum Teil erschreckenden Überblick, welche – zumeist europäischen – Regulierungen nicht nur im Gange sind, sondern welche auch noch künftig hinzukommen. Viel Diskussion entzündete sich an der Initiative POG - Product Oversight and Governance.

Dadurch sollen die Versicherungsaufsichtsbehörden die Verantwortung erhalten, den Produktentwicklungsprozess bei Versicherern durch Standards zu verbessern. Das beginnt danach schon mit der Definition von Zielgruppen für ein neues Versicherungsprodukt. Dies wurde von Diskussionsteilnehmen mit Unverständnis zur Kenntnis genommen, gehöre dies doch ohnehin zu den Kernaufgaben eines Versicherers.

Verbraucherschutzmaßnahmen von Kunden wirklich gewollt?
Damit spielte sie auch Hato Schmeiser in die Karten, Professor in St. Gallen. Der forderte, bei künftigen Regulierungen vorher eine Kosten-Nutzen-Analyse durchzuführen. „Eine Performancemessung ist möglich, wenn auch schwierig“, so Schmeiser. Insbesondere müsse es doch zu denken geben, wenn ausgerechnet die Kunden, die die Kosten der Regulierung tragen müssen, nicht gefragt werden, ob sie überhaupt Wert auf die Verbraucherschutzmaßnahme legen.

Bildquelle: © ristaumedia.de / Fotolia

Autor(en): Matthias Beenken

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