Der Bundestagswahlkampf ist voll entbrannt und die Rente ein Stein des Anstoßes. Überfällige Reformen werden blockiert und gleichzeitig mit der Senkung des Höchstrechnungszinses die Daumenschrauben angezogen. Auch die Branche selbst findet darauf keine Antwort.
Zwei Pressemitteilungen am letzten Dienstag im zeitlichen Abstand von wenigen Minuten hintereinander zeigen das ganze Ausmaß des Dilemmas, das sich derzeit an der Riester-Rente entzündet, tatsächlich aber das gesamte Grundkonzept einer freiwilligen, selbstbestimmten Altersvorsorge betrifft. Der Bund der Versicherten schreit auch im Namen der Bürgerbewegung Finanzwende und des Verbraucherzentrale Bundesverbands die Pressevertreter in Großbuchstaben mit der Botschaft „Stoppt die Riester-Rente!“ an. Der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) antwortet mit „20 Jahre Riester-Rente: Erfolg fortschreiben“ und ergänzt einen Hinweis auf einen Reformbedarf „statt Pauschalkritik“.
Der GDV-Pressemitteilung folgte wiederum ein empörtes Echo des Bundesverbands Deutscher Versicherungskaufleute (BVK), „Altersvorsorge ohne Beratung? BVK sieht die Kundeninteressen im Vordergrund!“ Darin wird ein Vorstoß des GDV kritisiert, Riester durch ein „digital vertriebenes und kostengünstiges Standardprodukt“ zu ersetzen. Dies wird vom Vermittlerverband als eine Abkehr vom traditionellen Vertrieb über Versicherungsvermittler verstanden, die für den hohen Bestand von 16 Millionen Riester-Verträgen verantwortlich sind, die der GDV in seiner Mitteilung als „die weltweit erfolgreichste freiwillige staatlich geförderte Altersvorsorge“ feiert.
Was interessieren uns unsere Überzeugungen von vor 20 Jahren?
Die Riester-Rente steht allerdings nur stellvertretend für die gesamte, privatwirtschaftlich organisierte und freiwillige Altersvorsorge. Im Bundestagswahlkampf hat diese Idee insbesondere bei denselben Parteien SPD und Bündnis 90/Die Grünen kein gutes Standing mehr, die noch 2001 die Riester-Rente gemeinsam eingeführt und gleichzeitig die betriebliche Altersvorsorge nachhaltig gestärkt haben, beispielsweise mit einem Rechtsanspruch hierauf. Zwei Jahrzehnte später wollen allerdings beide Parteien von Nachhaltigkeit ihrer Politik nichts mehr wissen und schlagen stattdessen im Detail unterschiedliche, im Kern aber staatlich organisierte Vorsorgesysteme und eine Abschaffung der Förderung privatwirtschaftlicher Vorsorge vor.
Dabei wird regelmäßig „vergessen“, dass die Ursache des Sinneswandels keineswegs in der Branche selbst liegt, sondern Niedrigzins heißt. Der wiederum dient dazu, die Folgen unsolider Haushaltspolitik auch in Deutschland – das die Maastricht-Kriterien ebenso wie viele anderen Länder zeitweise ignorierte – sowie überbordender Staatshilfen in der Banken- und Wirtschaftskrise 2007/2008 zu tragen. Faktisch zahlen seither die Zinssparer die Zeche für erschreckende Fehleinschätzungen der wahren Schuldenkrisen in Europa und den USA.
Bundesfinanzministerium spielt "Schwarzer Peter"
Der Fingerzeig auf die Versicherer und ihre Vermittler lenkt lediglich von diesen Ursachen ab. Kinder kennen das Spiel unter dem Namen „Schwarzer Peter“. Das Bundesfinanzministerium hat dieses Spiel eine Runde weitergespielt mit der Absenkung des Höchstrechnungszinses auf 0,25 Prozent ab 2022. Die gleichzeitige Weigerung der Koalitionspartei SPD, konstruktive Vorschläge für eine Lockerung die 100 Prozent-Beitragsgarantie für Förderprodukte wie Riester oder die Beitragszusage mit Mindestleistung aufzugreifen, nützt im Ergebnis dem SPD-Kanzlerkandidaten und Bundesfinanzminister in seinem Wahlkampf.
Die Wirkung geht aber weit über diese Produkte hinaus. Insgesamt wird in Frage gestellt, ob Altersvorsorge noch privatwirtschaftlich organisiert werden kann, wenn Rahmenbedingungen geschaffen werden, die jetzt schon eine Reihe Versicherer dazu bewegt haben, ihre Bestände in den Runoff zu schicken und auf reine Kapitalisierungsprodukte ohne echte Garantien umzustellen.
Gesellschaftspolitisch nicht zu Ende gedacht
Das Kapitalanlagerisiko wird stattdessen vollständig auf die vorsorgenden Bürger verschoben. Wer diese Idee gut findet, sollte sich besser noch einmal an den Höhepunkt der Finanzkrise zurückerinnern und die teils dramatischen Verluste an Altersvorsorgekapital in Ländern wie den USA und Großbritannien, die schon lange auf solche Vorsorgesysteme setzen. Die politische Sprengkraft einer stark schwanken Altersvorsorge und damit verbundenen Unsicherheit, ob und unter welchen Bedingungen ein Ruhestand angetreten werden kann, ist enorm. Ist es ein Zufall, dass nach diesen Ereignissen die Bürger einem Brexit in Großbritannien zugestimmt oder einen Präsidenten Trump in den USA gewählt haben? Ist das die Vision unserer linken Parteien und ihrer außerparlamentarischen Verbündeten, wohin sich Deutschland entwickeln soll? Sollen sich auch hierzulande die Menschen nur noch in Großbuchstaben anschreien und am Ende Schlimmeres antun, wenn Millionen Menschen Angst haben, wann sie je nach Börsenlage in einen gesicherten Ruhestand gehen können?
Ist das die Nachhaltigkeit, die alle auf einmal umweltbewussten Parteien im Wahlkampf fordern? Ist das eine sinnvolle Umlenkung von Kapital in Richtung der zahllosen Infrastrukturinvestitionen, die zur für die hektisch verhandelten Klimagesetze dringend gebraucht werden? Ist das eine wertschätzende Rollenbestimmung für den Vertrieb, den Europa mit seiner Transparenzverordnung zu Helfershelfern einer gigantischen Kapitalverschiebung in Richtung nachhaltiger Anlagen dringend braucht?
Branche muss sich wesentlich schneller bewegen
Allerdings ändert das nichts daran, dass auch die Versicherungswirtschaft mehr tun muss, anstatt sich nur bräsig für 16 Millionen Riesterverträge selbst zu feiern, wohlweislich verschweigend, wie viele davon nicht oder nicht mehr voll bespart werden oder nie im ursprünglich gedachten Ausmaß an die Lohnentwicklung angepasst worden sind. Es braucht bessere Konzepte. So fordert der GDV digitalisierte und dadurch günstigere Produkte. Hindert bislang jemand die Versicherer daran, das umzusetzen? Die seit Jahrzehnten höchst unterschiedlichen Kostenquoten der Lebensversicherer zeigen, dass hierin noch viel Potenzial steckt.
Die Vermittler wollen weiter im Spiel bleiben und freiwillige Vorsorge gegen auskömmlich hohe Provisionen vermitteln können. Wohlgemerkt, freiwillige Vorsorge – was aber bedeutet, dass zahllose Kunden erst einmal oft vergeblich angesprochen und beraten werden müssen, ehe sich einer für eine Vorsorge entscheidet. Walter Riester wollte aus guten Gründen eine Pflichtversicherung für die Bürger.
Auch in der betrieblichen Altersvorsorge machen viele Länder gute Erfahrungen mit Opt out-Lösungen, einem sanften Zwang zur Vorsorge. Warum nicht endlich diesen Weg beschreiten und ähnlich wie in der Kfz-Pflichtversicherung den Erwerbstätigen die Vorsorge vorschreiben, aber ihnen die freie Wahl für die Art der gewünschten Vorsorge lassen? Ein Vorbild ist die Kfz-Versicherung, in der sich bis heute systematisch niedrigere Provisionen als in anderen Sachversicherungssparten etabliert haben. Denn der Akquiseaufwand reduziert sich erheblich gegenüber rein freiwilligen Angeboten.
Abschlusskosten aus dem Produkt abtrennen
Überlegenswert ist weiter, die Kosten für Beratung und Vermittlung aus den Vorsorgeprodukten abzutrennen und separat mit dem Kunden zu vereinbaren. Das hat logischerweise eine positive Wirkung auf die Rendite der Verträge, der garantierte Beitragserhalt bleibt selbst bei dem minimalen Höchstrechnungszins grundsätzlich möglich.
Den Kunden bringt es unter dem Strich allerdings nichts, wie die britische Finanzaufsicht und das britische Finanzministerium in ihren Studien offenlegen. Die außerhalb der Versicherung vereinbarten Kosten für Beratung und Vermittlung sind keineswegs niedriger als die in Deutschland marktüblichen Provisionen, und sie werden auch ganz überwiegend analog Provisionen als Anteil am Investmentvolumen berechnet und auf Wunsch der Kunden von den Versicherern und Kapitalanlagegesellschaften an die Makler gezahlt.
Schrittweise einzuführendes Provisionsverbot
Aber Verbraucherschützer finden das offensichtlich eine so gute Lösung, dass sie jedenfalls die Grünen davon überzeugt haben, ein schrittweise einzuführendes Provisionsverbot und einen Schwenk in die Honorarberatung in ihr Wahlprogramm aufzunehmen. Die begüterten grünen Stammwähler in Freiburg und anderswo wird es sicher nicht stören, ihre Berater separat zu bezahlen, und die Branche wird weiter gut daran verdienen. Was das mit solidarischen, gerechten und nachhaltigen Vorsorgekonzepten für die gesamte Bevölkerung zu tun hat, erschließt sich allerdings nicht.
Autor(en): Matthias Beenken