Mit ihrer Entscheidung, den Leitzins auf dem Rekordtief von null Prozent zu belassen, hat die EZB niemanden überrascht. In seinem Kommentar erläutert Finance-Experte Martin Faust, warum die Europäische Zentralbank in einer Sackgasse steckt.
Die Entscheidung der EZB auf Zinserhöhungen für die nächsten Jahre zu verzichten sowie weitere Zinssenkungen und erneute Anleihekäufe zu erwägen, ist letztlich – mit Blick auf die Notenbankpolitik der letzten Jahre – konsequent. Die Notenbanken fühlen sich immer stärker in der Verantwortung, für Wirtschaftswachstum zu sorgen. Die Kopplung der Geldpolitik an das Ziel einer Inflationsrate nahe zwei Prozent ist ebenfalls kritisch. Trotz Wirtschaftswachstum liegt die Inflation in vielen Ländern deutlich unter den avisierten zwei Prozent. Viele Wissenschaftler gehen davon aus, dass angesichts der zunehmenden Produktivität durch die Digitalisierung auf absehbare Zeit nicht mit stärkeren Preissteigerungen zu rechnen ist.
Regierungen haben Zeit ungenutzt vertsreichen lassen
Etwa seit dem Jahr 2009 herrscht für entwickelte Volkswirtschaften eine Phase mit überwiegend niedrigen Marktzinssätzen. In der Bundesrepublik Deutschland wurde der Nominalzinssatz auf Tagesgeldeinlagen und Sparguthaben zeitweise sogar negativ.
Mit ihrer Geldpolitik hat sich die EZB in den letzten Jahren zunehmend in eine Sackgasse manövriert, aus der sie kaum noch herauskommt. Einerseits werden die negativen Folgen dieser Politik immer sichtbarer. Anderseits ist eine grundlegende Veränderung der Geldpolitik und damit die Rückbesinnung auf frühere Überzeugungen ebenfalls mit negativen Folgen für die Wirtschaft verbunden. Die EZB-Politik ist auch eine Reaktion auf die zu geringen Aktivitäten der Regierungen der Euro-Länder. Die von der EZB verschaffte Zeit wurde vielfach nicht genutzt, um die Länder wirtschaftlich und fiskalpolitisch zukunftsfähig zu machen.
Bezug zur Realwirtschaft ist geschwunden
Gerne würde ich den Blick auch auf einen weiteren Aspekt lenken, der nur selten in den Medien diskutiert wird und ebenfalls eine fundamentale Veränderung darstellt. In der Vergangenheit haben die Notenbanken ihren Fokus auf die Realwirtschaft gelegt. Mit ihrer Zinspolitik wollten sie Unternehmen zu Investitionen bewegen und private Haushalte zum Konsum. Die Finanzmärkte, so die häufige Meinung, spiegeln lediglich die Erwartungen bezüglich der Realwirtschaft wider. Dies gilt jedoch nur noch bedingt.
Betrachtet man die Kursbewegungen von Anleihen und Aktien, so reagieren diese kaum noch auf fundamentale Faktoren wie zum Beispiel Umsatz- oder Gewinnentwicklung, sondern auf die Zinspolitik der Notenbanken. In Erwartung einer restriktiveren Geldpolitik sind Ende letzten Jahres die Aktien- und Anleihekurse stark gesunken. Als sich abzeichnete, dass die erwarteten Zinserhöhungen ausfallen werden, sind die Kurse - trotz schlechter Unternehmensdaten - in den letzten Monaten massiv gestiegen.
Zinserhöhungen führen zu massiven Vermögensverlusten
Diesen Bewertungsmechanismus lernt jeder BWL-Student im ersten Semester. Der Wert einer Anlage ist nichts anderes als der Wert der diskontierten künftigen Gewinne oder Zahlungen. Sinkt der Diskontierungszins so steigt der Barwert und damit der Kurse. Angesicht der durchaus positiven wirtschaftlichen Entwicklung der letzten Jahre, nicht nur weltweit, sondern auch in den meisten europäischen Ländern, wären moderate Zinserhöhungen für die Unternehmen gut verkraftbar. Sollte ein geringer Zinsanstieg zur Insolvenz einer Firma führen, so sind die Ursachen sicherlich nicht beim - historisch niedrigen - Zins zu suchen.
Während die Realwirtschaft durchaus höhere Zinsen vertragen könnte, gilt dies aber nicht für die Finanzmärkte. Angesichts der gigantischen Geldbeträge, die in Finanzanlagen stecken, führen Zinserhöhungen aufgrund des beschriebenen Bewertungsmechanismus über den höheren Diskontierungszins zu massiven Wert- und damit Vermögensverlusten.
Der Schwanz wedelt mit dem Hund
Verstärkt werden diese Bewegungen durch den hohen Anteil fremdfinanzierter Unternehmens- und Anleihekäufe. In der Folge sinken die Ersparnisse für die Altersvorsorge und die Konsumneigung der privaten Haushalte geht nach unten. Darüber hinaus haben die niedrigen Zinsen kreditfinanzierte Käufe von Wertpapieren, Unternehmen und Immobilien massiv ansteigen lassen – vielfach haben sich Blasen gebildet. Bereits geringfügig steigende Zinsen bedrohen diese Investitionen und es besteht die Gefahr von Totalverlusten für die Investoren. Diese Vermögensverluste entstehen nicht nur bei den privaten Anlegern direkt, sondern auch indirekt über institutionelle Investoren und Schattenbanken wie Private Equity Gesellschaften und Hedgefonds.
Die Beispiele belegen, dass Krisen auf den Vermögens- und Wertpapiermärkten sehr schnell auf die Realwirtschaft übergehen. Somit sind die Kapitalmärkte nicht mehr von der Realwirtschaft abhängig, sondern umgekehrt. Damit muss die EZB nicht nur die Folgen einer Zinserhöhung auf die Realwirtschaft, sondern verstärkt auch die Finanzmärkte im Blick haben. Wie heftig und schnell die Reaktion auf die Zinspolitik sein kann, belegen die massiven Kursveränderungen des vergangenen Jahres. Der Schwanz wedelt somit mit dem Hund und nicht mehr umgekehrt.
Notenbanken sind erpressbar geworden
Letztlich ist die Zinspolitik auch ein Zeichen dafür, dass die Notenbanken erpressbar geworden sind. Mit der Aussage "whatever it takes" hat Herr Draghi den Regierungen aber auch den Spekulanten auf den Finanz- und Immobilienmärkten einen Freibrief erteilt.
Professor Dr. Martin Faust ist Professor für Bankbetriebslehre an der Frankfurt School of Finance & Management.
Autor(en): Martin Faust