Vor wenigen Wochen wurde die Endfassung der DIN-Norm 77230, Basis-Finanzanalyse für Privathaushalte, veröffentlicht. Welchen Nutzen sie bietet, welche Grenzen sie hat.
Die seit 2019 gültige Norm hatte eine lange Vorgeschichte. Ziel ist es, eine systematische Erhebung von Daten der "Themenbereiche Absicherung, Vorsorge und Vermögensplanung" zu unterstützen und mit deren Hilfe Beratungsthemen und erste pauschale Handlungsempfehlungen abzugeben. Aber: "Diese Norm umfasst weder die qualitative Analyse der Details von in dem zu untersuchenden Privathaushalt bereits vorhandenen Produkten noch Beratungsleistungen zur Interpretation der Ergebnisse der Basis-Finanzanalyse."
Vollständige Umsetzung erfordert diverse Erlaubnisse
Das bedeutet, dass in einem typischen Beratungsprozess die Norm nur in einem kleineren Teil greift. Am Anfang steht die Interessentengewinnung, gefolgt von der Anlass- oder Auftragsklärung. Dabei wird festgelegt, worüber auf Wunsch entweder des Kunden oder auf Veranlassung des Vermittlers gesprochen werden soll. Sofern als Anlass beziehungsweise im Fall des Maklers als Auftrag eine umfassende Haushaltsberatung erfolgen soll, kann die DIN-Norm zur Anwendung. Beschränkt sich der Anlass hingegen auf einzelne Ausschnittsbereiche, zum Beispiel bestimmte gewünschte Produkte oder Anlässe wie die Zulassung eines Kfz, ist die Norm-Beratung nicht sinnvoll anzuwenden.
Zudem müssen sich Vermittler und Berater darüber im Klaren sein, dass sie sich bei vollständiger Anwendung der Norm sowohl im Zulassungsbereich der Versicherungsvermittlung nach § 34d GewO als auch der Finanzvermittlung nach § 34f GewO und der Immobiliardarlehensvermittlung nach § 34i GewO bewegen - unter Umständen sogar auch noch im Bereich einer KWG-Erlaubnis. Wer nicht alle diese Zulassungen besitzt, muss daher schon in der Anlass-oder Auftragsklärung auf die Einschränkungen hinweisen - eine vollständige "Basis-Finanzanalyse für Privathaushalte" wird es dann nicht geben können, oder es müsste ein Team verschiedener Berater daran arbeiten. Damit ist klar, dass hier vor allem größere Vermittler und Finanzvertriebe Adressat einer umfassenden Anwendung im Interesse einer ganzheitlichen Sicht auf die Finanzen und die Existenzsicherung eines Privatkunden sind.
Verdrängung oder Ergänzung bestehender Beratungskonzepte?
Ob es darüber hinaus einen hinreichenden Markt für reine Berater, die mit Mehrfach-Beratungserlaubnis oder in Sozietäten eine solche umfassende Analyse als reine Beratungsleistung anbieten, muss bezweifelt werden. Denn die große Mehrheit der Kunden wünscht offensichtlich wenn, dann auch die Umsetzung der Empfehlungen durch Vermittlung geeigneter Finanz- und Versicherungsprodukte aus einer Hand. Die bisher auf niedrigem Niveau verharrenden Zulassungszahlen der Berater sprechen gegen eine entsprechende Nachfrage durch Privatkunden.
Nicht zu verhindern wird deshalb wohl, dass im Markt Beratungs- und Vermittlungsangebote entstehen, die nur "in Anlehnung an die DIN-Norm 77230" Ausschnittsbetrachtungen vornehmen. Die Schöpfer der Norm werden hier darauf achten müssen, dass nicht am Ende die Norm inflationär als Deckmantel für die Fortsetzung altbekannter Vertriebsprozesse herhalten wird.
Hinzu kommt, dass es im Markt bereits etablierte Beratungssysteme mit dem Anspruch einer ganzheitlichen Beratung sowohl von Sparkassen und Banken als auch Versicherungsgesellschaften gibt. Auch hiergegen werden sich "DIN-konforme" Beratungsmodelle erst noch durchsetzen müssen.
Berufliche und gewerbliche Risiken nicht erfasst
Gegenstand der Norm ist ein typisierter Privathaushalt. Schon wenn ein "Haushaltsverantwortlicher" beispielsweise einen freien Beruf ausübt oder ein Gewerbe betreibt, aus dem Risiken in die Privatsphäre reichen, ist diese Norm nicht mehr geeignet, alle typischen Risiken zu erfassen, zu beschreiben und Handlungsempfehlungen abzuleiten. Selbst Beamte werden nicht hinreichend erfasst, sofern sie erlaubte Nebentätigkeiten ausüben, aus denen spezifische Risiken resultieren. Das schmälert keineswegs den Wert der Norm für traditionelle Privathaushalte, aber Anwender sollten diese Begrenzung kennen und in der Beratung beachten.
Gegenüber dem Entwurf von Mitte 2018 wurden nur wenige Änderungen vorgenommen. So verwendet die Norm weiter von den Rechtsnormen abweichende Begrifflichkeiten hinsichtlich "Wünschen", "Bedürfnissen" und "Bedarfe", was eine durchaus vermeidbare Verwirrung darstellen kann. Wenn der Gesetzgeber schon Normen vorgibt, erleichtert es die Rechtsanwendung, wenn diese auch in einer DIN-Norm in gleicher Bedeutung auftauchen.
Die Priorisierung von Risiken und Finanzthemen wurde etwas klarer formuliert, muss aber in jedem Fall durch eine nicht in der Norm beschriebenes Verfahren umgesetzt werden, denn die Regeln zur Priorisierung stehen in einem Spannungsverhältnis zueinander, können sich also überschneiden, ergänzen oder verdrängen. Umsetzen kann man das beispielsweise mit einem Scoringmodell, wie es der Urheber der Idee einer Deutschen Finanznorm, die Defino, nach eigenen Angaben anwendet. Schade ist, dass in der Norm selbst dazu keine Anwendungshinweise zu finden sind. Schon allein dadurch wird wohl kaum das Ziel erreicht werden können, dass ein DIN 77230-gerechter Beratungsprozess stets zum selben Ergebnis an Handlungsempfehlungen gelangen wird, unabhängig von der Person oder Institution, die diesen Beratungsprozess entwickelt und anwendet.
Abgebrannt, aber basisversorgt?
Verstehen muss man auch nicht unbedingt, warum zum Beispiel der "Verlust von Hausrat" in der Logik der Norm nur der Bedarfsstufe 2, "Erhaltung des Lebensstandards", nicht aber zumindest in wichtigen Teilen schon der Bedarfsstufe 1 "Sicherung des finanziellen Grundbedarfs", definiert als "Absicherung und Vorsorge oberhalb der staatlichen Grundsicherung" entsprechen soll, genauer als das, was man sich vom Mindestlohn für eine Vollzeitstelle leisten kann.
Für einen Großteil der Privathaushalte in Deutschland dürfte der Hausrat das einzige, nennenswerte Vermögen darstellen, dessen Verlust zum Beispiel nach einem Brand auf keinen Fall aus einem Mindestlohn heraus ersetzt werden kann. Möglicherweise haben sich die Autoren dieser Norm doch eher an einer vermögenden Klientel orientiert, die einen Hausrat aus Ersparnissen ersetzen könnten - die dann aber auch kaum mit einer "Bedarfsstufe 1", also Mindestlohn, zufrieden sein wird.
Lerninhalte der Vermittler und Berater anpassen
Bisher haben sich insbesondere die Initiatoren der Norm, verschiedene Vertriebe, sowie ein Versicherer zur Anwendung der DIN-Norm bekannt. Wünschenswert wären eine breitere Anwendung und eine konstruktive Diskussion darüber, wie man eine Vereinheitlichung des Priorisierungsergebnisses herstellen sowie die hin und wieder lückenhafte Versicherungsfachlichkeit ergänzen kann. Der nächste Schritt müsste dann sein, Beratungsprozesse zu entwickeln, die nicht nur die isolierte Bedarfsanalyse, sondern auch einen strukturierten Prozess der Herleitung von Angeboten und der fachlichen Beratung umfasst. Ergänzt werden muss dies um die iterative Bildung von Prioritäten nach den immer auch noch wichtigen subjektiven Wünschen der Kunden sowie deren Zahlungsbereitschaft. Nur dann entsteht eine praxisgerechte Anwendung bis hin zum Abschluss oder Kauf von Finanz- und Versicherungsprodukten.
Sonst bleibt es wie schon in der Vergangenheit dabei, dass zwar Gutachten mit vielen Seiten Umfang erstellt, anschließend aber doch nicht umgesetzt werden und in Versicherungs- und Finanzordnern der Kunden verstauben. Diese Erfahrung mussten schon etliche Vertriebe, Versicherer und Banken machen, die beispielsweise schon in den 1990er Jahren Financial Planning-Truppen eingerichtet und später wieder aufgelöst hatten. Oder es wurde Beratungssoftware von Financial Planning-Instituten gekauft und an die Vermittlerschaft verteilt, die sich dann aber vorrangig an den hohen Kosten der Druckerpatronen für die umfangreichen Gutachten störten, anstatt die Gutachten produktiv in den Verkaufsprozess einzubinden.
Schließlich stellt sich die Frage der Ausbildung, damit künftige Generationen an Vertrieblern eine solche strukturierte Beratung auch erlernen können. Da die im Anhang 1 der IDD definierten Lernziele ohnehin nicht vollständig in den Anhang 1 der Versicherungsvermittlungsverordnung umgesetzt wurden - so fehlt unter anderem ein Lerninhalt "Geeignetheitsprüfung" -, wäre das ein guter Anlass, den besagten Anhang 1 VersVermV noch einmal grundlegend zu überarbeiten. Analog wären auch die Verordnungen für die weiteren Erlaubnistatbestände anzupassen.
Autor(en): Matthias Beenken