Kapitalbildende Lebensversicherungsprodukte müssen Kundinnen und Kunden einen angemessenen Nutzen bieten, gleichzeitig müssen die Anbieter aber Interessenskonflikte im Vertrieb vermeiden. Diesen Spagat beschrieb Kaj Hanefeld, Fachreferent in der Versicherungsaufsicht der BaFin, bei der Jahreskonferenz der Versicherungsaufsicht. In vier Thesen umreißt er die Problematik.
Produkte müssen den Kunden nutzen. Vertrieb sollte frei von Interessenskonflikten erfolgen. Klingt eigentlich selbstverständlich – erscheint im Fall kapitalbildender Lebensversicherungen aber manchmal zweifelhaft. Deshalb hat die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) im Oktober 2022 die Konsultation ihres Entwurfs für ein „Merkblatt zu wohlverhaltensaufsichtlichen Aspekten bei kapitalbildenden Lebensversicherungsprodukten“ gestartet.
Der Merkblattentwurf richtet sich an in- und ausländische Lebensversicherer, die der Aufsicht der BaFin unterliegen, in den Anwendungsbereich der Versicherungsvertriebsrichtlinie (Insurance Distribution Directive – IDD) fallen und kapitalbildende Lebensversicherungsprodukte anbieten.
Der Schwerpunkt des Merkblattentwurfs liegt auf dem Produktfreigabeverfahren. Dabei geht es darum, dass die Versicherer den Kundennutzen ihrer Produkte im Hinblick auf die Bedürfnisse des Zielmarkts gewährleisten und die hierfür gesetzlich vorgegebenen Prozesse einrichten (§ 23 Abs. 1a bis 1c Versicherungsaufsichtsgesetz (VAG), Delegierte Verordnung 2017/2358). Die im Merkblattentwurf dargestellten Vorgaben zur Vertriebsvergütung (§ 48a VAG, Delegierte Verordnung 2017/2359) haben den Zweck, Fehlanreize im Vertrieb zu vermeiden. Zum Beispiel können zu hohe Vermittlerprovisionen einer ergebnisoffenen Information und Beratung der Versicherungsnehmer im Wege stehen.
These 1:
Für den Zielmarkt ist der Kundennutzen als Gegenwert für die geleistete Prämie eine entscheidende aufsichtliche Kategorie. Dabei ist die gesamte Vertragslaufzeit wichtig. Attraktive Produkte setzen einen angemessenen Kundennutzen voraus.
Die IDD hat das Produktfreigabeverfahren als aufsichtsrechtliche Anforderung an die Lebensversicherer eingeführt. In diesem Zuge wurde der Kundennutzen, also der Gegenwert für die geleistete Prämie, zu einer entscheidenden aufsichtlichen Kategorie. Er kam als aufsichtliche Anforderung zu den traditionellen Vorgaben des Verbraucherschutzes, die sich im Wesentlichen im Versicherungsvertragsgesetz (VVG) und im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) finden, hinzu. Anders als die Informations- und Beratungspflichten am Point of Sale (PoS), die den Verkauf an den Kunden im Einzelfall adressieren, richtet sich der Kundennutzen im Produktfreigabeverfahren nicht nach dem einzelnen Kunden, sondern der Gesamtheit der Kunden, die zum Zielmarkt des Produkts gehören.
Für kapitalbildende Lebensversicherungen zur Altersvorsorge, insbesondere fondsgebundene Produkte, fordert die BaFin im Merkblattentwurf für einen angemessenen Kundennutzen, dass sie mit hinreichender Wahrscheinlichkeit einen realen Anlageerfolg erzielen. Damit ist eine Rendite nach Kosten gemeint, die oberhalb einer begründeten Inflationserwartung liegt. Ausgangspunkt ist zunächst ein regulärer Ablauf der Ansparphase. Allerdings sind im Hinblick auf die Bedürfnisse des Zielmarkts auch vorzeitige Vertragsbeendigungen während der Ansparphase in den Blick zu nehmen. Je höher nach den Erwartungen des Lebensversicherungsunternehmens der Anteil der Kunden ist, der seinen Vertrag vorzeitig beendet, desto bedeutsamer ist die Frage, wie sich vorzeitige Vertragsbeendigungen auf den Kundennutzen auswirken.
These 2:
Bei Produkten zur privaten Altersvorsorge spielen die Kosten eine wesentliche Rolle. Ziel ist die Darstellung einer realen Rendite.
Wenn es das Ziel ist, mit hinreichender Wahrscheinlichkeit eine Rendite nach Kosten zu erreichen, die oberhalb einer begründeten Inflationserwartung liegt, dann ist klar: Je höher die Kosten des Produkts sind, desto schwieriger wird es, eine solche reale Rendite zu erreichen. Für diese Prognose sind die Effektivkosten anzusetzen, die die jährliche Rendite durch Kosten mindern.
These 3:
Wegen vorzeitiger Vertragsbeendigungen sollten Versicherer die Kosten der Vertriebsvergütung genau prüfen.
Die Effektivkosten zeigen die Minderung der jährlichen Rendite durch Kosten an. Tatsächlich sind die Kosten aber nicht gleichmäßig über die Vertragslaufzeit verteilt, sondern fallen üblicherweise größtenteils zu einem frühen Zeitpunkt im Vertragsverlauf an. Dies liegt daran, dass die Lebensversicherungsunternehmen ihren Vertriebspartnern üblicherweise bereits mit Zustandekommen des Vertrags eine Abschlussprovision in Höhe eines Anteils an der vertraglich vereinbarten Beitragssumme der Versicherung vergüten, und zwar unabhängig davon, dass diese Beitragssumme durch den Kunden noch gar nicht vollständig gezahlt worden ist. Die Lebensversicherungsunternehmen stehen insoweit unter Druck, sich möglichst zeitnah aus den Prämien ihrer Kunden zu refinanzieren.
Hierzu trifft § 169 Absatz 3 VVG die Regelung, dass bei einer Kündigung die angesetzten Abschluss- und Vertriebskosten bei der Berechnung der Rückkaufswerte mindestens auf die ersten fünf Jahre verteilt werden müssen (und nicht höher als 2,5 Prozent der vertraglichen Beitragssumme sein dürfen). Diese Regelung schwächt im Fall einer Vertragsbeendigung in den ersten fünf Jahren den Effekt, da die Abschluss- und Vertriebskosten üblicherweise zu einem frühen Zeitpunkt im Vertragsverlauf anfallen, zugunsten des Kunden ab. Die Regelung ist jedoch im Hinblick auf die Vorgaben des Produktfreigabeverfahrens zum Kundennutzen nicht abschließend.
Das lässt sich mit dem folgenden Extrembeispiel illustrieren: Ein Lebensversicherungsunternehmen erwartet für ein Produkt, das auf eine langjährige Ansparphase ausgelegt ist, dass die Angehörigen des Zielmarkts ihre Vertragsverhältnisse innerhalb der ersten fünf Jahre zu 100 Prozent vorzeitig beenden. Es liegt auf der Hand, dass ein solches Produkt, das aufgrund der früh im Vertragsverlauf anfallenden Kosten bei einer Kündigung nach fünf Jahren keine positive Rendite erreichen kann, keinen Kundennutzen hätte, unabhängig davon, ob § 169 Absatz 3 VVG beachtet wird oder nicht.
These 4:
Kickbackzahlungen von Fondsgesellschaften sind im Hinblick auf den Kundennutzen sehr fragwürdig.
Die BaFin hat beobachtet: Für rund 30 Prozent des Neugeschäfts des Jahres 2021 in der fondsgebundenen Lebensversicherung, gemessen an der vertraglichen Beitragssumme (von insgesamt knapp 69 Milliarden Euro), wussten die Lebensversicherer von Rückvergütungen durch Fondsgesellschaften an ihre Vertriebspartner oder konnten diese nicht ausschließen. Solche Rückvergütungen machen nach Kenntnis der BaFin bis zu ein Prozent des Fondsvermögens jährlich aus. Das sind zusätzliche Kosten, bei denen ein korrespondierender Kundennutzen fraglich ist. Solche Rückvergütungen der Fondsgesellschaften direkt an die Vertriebspartner werden zusätzlich zur Vergütung der Versicherungsunternehmen gezahlt. Sie sind tendenziell kostentreibend und können im Einzelfall Fehlanreize setzen.
Mit dem geplanten Merkblatt will die BaFin dazu beitragen, dass kapitalbildende Lebensversicherungen Kunden einen angemessenen Nutzen bieten und Interessenkonflikte beim Vertrieb dieser Produkte vermieden werden.
Quelle: BaFin
Autor(en): versicherungsmagazin.de