"Das Märchen von der Beratungslücke" überschreibt Dorothea Mohn, Leiterin des Team Finanzmarkt beim Verbraucherzentrale Bundesverband, einen Gastkommentar in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". Er ist als Replik gedacht auf einen Beitrag des Hauptgeschäftsführers des Bundesverbands Investment und Asset Management, Thomas Richter, der an selber Stelle auf die kritischen Erfahrungen mit dem Provisionsverbot in Großbritannien hingewiesen hatte.
Beide beziehen sich dabei auf die regelmäßige Berichterstattung des britischen Finanzministeriums und der britischen Finanzaufsicht, den sogenannten Financial Advice Market Review (FAMR), zu dem mittlerweile mehrere Reports erschienen sind.
Bundesregierung finanziert keine unabhängige Marktforschung
Wenn man diese schon würdigt, sollte man auch einmal kritisch hinterfragen, warum die Bundesregierung zwar etliche Millionen Euro zur Einrichtung eines Finanzmarktwächters und damit zur Förderung der Verbraucherzentralen ausgibt, aber keinen dem FAMR-Reports vergleichbaren, unabhängigen und sachlichen Bericht über die Entwicklungen der Marktstrukturen in Deutschland finanziert.
Oder würde das den Feldzug der Verbraucherzentralen für die vermeintlich segensreiche Honorarberatung stören? Immerhin sind sie selbst dabei Marktteilnehmer und verdienen Geld mit Honorarberatung. Die Versicherungsvertriebsrichtlinie würde an dieser Stelle von einem "Interessenkonflikt" sprechen, der zu vermeiden oder wenigstens dem Verbraucher offenzulegen ist.
Es gibt eine Beratungslücke
Der mediale Streit um die Interpretation der britischen Erfahrungen mit der 2013 in Kraft getretenen Reform "Retail Distribution Review" geht an der Sache vorbei. Die Reports sind so ausgewogen erstellt, dass bei allem erkennbaren Drang, den selbst betriebenen Reformprozess zu loben und zu rechtfertigen, doch jeder Leser für seine Zwecke etwas herauslesen kann.
Und dazu gehört auch eindeutig, dass es eine Beratungslücke gibt, auch wenn Frau Mohn davon nichts gelesen haben will. So heißt es im Report vom März 2016: "Die überwiegende Mehrheit der Antwortenden glaubt, dass es eine oder mehrere Beratungslücken gibt, wobei die meisten davon ausgehen, dass eine Lücke für Menschen mit geringem Einkommen oder geringem Anlagevermögen besteht, die sich die Beratungshonorare nicht leisten können oder es schwer finden Zugang zu erhalten."
Staat hilft bei der Bekämpfung der Reform-Folgen
Im Ergebnis wurden eine Reihe Empfehlungen zur Weiterentwicklung der Reform abgegeben. Eine davon lautete, dass die Finanzaufsicht eine Beratungseinheit aufbauen soll, um Finanzdienstleister dabei zu unterstützen, automatisierte Beratungsmodelle zu entwickeln.
Im April 2017 konnten die Behörden berichten, dass diese Einheit eingerichtet worden ist. Ihr Ziel ist es, "Lücken im Markt" zu schließen, die im FAMR identifiziert wurden, und zwar bezogen auf Investments, Einkommenssicherungsprodukte und Altersvorsorge. Neun Finanzdienstleister konnten in einer ersten Tranche teilnehmen, eine zweite Tranche wurde bereits ausgeschrieben. Man stelle sich vor, die deutsche Bundesregierung würde deutsche Finanzdienstleister auffordern, mit der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht zusammen Robo-Advising-Systeme zu entwickeln und dafür Gelder bereitstellen, damit sich mehr Menschen zur Altersvorsorge oder zur Berufsunfähigkeit beraten lassen. Die Verbraucherzentralen würden die Welt nicht mehr verstehen.
Im neuesten FAMR-Report Ende Juni bekräftigten die britischen Behörden, dass es das Ziel ihrer Aktivitäten sei, über verschiedene Vertriebswege einschließlich demjenigen des Belegschaftsgeschäfts am Arbeitsplatz den Verbrauchern bezahlbare Beratung und Unterstützung zu bieten. Sie sollen dabei flexible Angebote erhalten, wie sie für die Beratung bezahlen können.
Mehrheit der "Honorare" sind tatsächlich Courtagen
Auch hier liefert der Report aufschlussreiche Hintergrundinformationen, die den Honorar-Begeisterten in Deutschland zu denken geben sollte. 48 Prozent der Erst- und 57 Prozent der Folgeberatungen werden im britischen Markt als Prozentanteil der Investmentsumme in Rechnung gestellt. Hierzulande nennt man es Provision oder Courtage, wenn die Vergütung vom Vermittlungserfolg und von der vermittelten Summe abhängig ist. In Großbritannien heißt es einfach "Gebühr". Mit Honorarhat das wenig zu tun.
Nur 19 Prozent der Erst- und 16 Prozent der Folgeberatungen werden dagegen per Stundensatz abgerechnet, also das, was man in Deutschland tatsächlich "Honorar" nennen würde. Der Rest bezahlt seine Berater mit Pauschalgebühren (23/16 Prozent) oder mit Gebühren, die als Mischung aus den genannten Systemen gestaltet werden (zehn Prozent).
Jeder Zweite braucht nach britischem Verständnis keine Beratung
Der medial ausgetragene Streit dreht sich aber um eine ganz andere Frage: So hatte Richter in seinem Betrag hervorgehoben, dass sich 94 Prozent der Briten nicht beraten lassen würden. Das war eine einfache Differenzrechnung aus sechs Prozent, die sich nach einer Erhebung der Behörden in den letzten zwölf Monaten eine regulierte Finanzberatung in Anspruch genommen haben, und 100 Prozent der Befragten. Diese Verkürzung thematisiert Mohn ausführlich und bestreitet, dass dieser Umkehrschluss, 94 Prozent der Briten wären Opfer einer Beratungslücke, zulässig ist.
Sie übersieht dabei aber auch Folgendes: Laut FAMR-Report hätten 25 Prozent der Befragten Bedarf für eine Beratung, haben sie aber nicht in Anspruch genommen. Immerhin 19 Prozent der Befragten haben schlicht nicht genügend Angaben gemacht, um einschätzen zu können, ob sie eine Beratung gebraucht hätten.
Aber Sprengstoff enthält eine andere Zahl: 50 Prozent haben den Annahmen zufolge keinen Beratungsbedarf gehabt – und zwar deshalb, weil sie zu wenig Geld auf der hohen Kante haben. Definitionsgemäß waren das Personen mit weniger als 10.000 GBP an Spareinlagen oder Rentenansprüchen. Man stelle sich vor, in Deutschland würden 50 Prozent der Bevölkerung für zu arm deklariert, dass sie eine Altersvorsorgeberatung in Anspruch nehmen sollten – da würden sofort die nächsten Gerechtigkeits-Kampagnen durch die Parteienlandschaften schwappen.
Wichtig ist, überhaupt vorzusorgen
Zusammenfassend ist daher der Skandal sicher eher nicht, dass nur sechs Prozent der Briten eine Beratung im zurückliegenden Jahr in Anspruch genommen haben. Vielmehr liegt er darin, dass nach britischem Behördenverständnis die Hälfte der Bevölkerung als zu arm und damit nicht vorsorge-, sondern wohl irgendwann hilfebedürftig eingestuft wird, und dass fast die gesamte verbleibende Hälfte der Befragten wohl einen Rat gebraucht hätten, ihn aber nicht in Anspruch genommen hat.
Deshalb wäre es angebracht, wenn sich die Verbraucherzentralen dafür einsetzen, dass dem deutschen Verbraucher britische Verhältnisse erspart bleiben. Jeder sollte Altersvorsorge betreiben, und jeder sollte auch Beratung dazu in Anspruch nehmen. Ob gegen "Honorar", "Gebühr" oder "Provision", ist egal. Entscheidend ist, dass überhaupt Vorsorge betrieben wird.
Autor(en): Matthias Beenken