Die Bundesregierung ist mit dem IDD-Umsetzungsgesetz nicht dem Wunsch der Branche entgegengekommen, im Fernabsatz vom Beratungszwang Dispens zu erhalten. Dafür wurde der Verzicht erleichtert - scheinbar.
Die Versicherungsvertriebsrichtlinie IDD sieht in ihrem Artikel 20 eigentlich eine recht lebensnahe und pragmatische Lösung für das Thema Vertrieb ohne persönliche Beratung vor. Denn Beratung ist nach der Richtlinie eine persönliche Dienstleistung, durch die der Kunde erfahren soll, warum ein angebotener Vertrag am besten geeignet sein soll, seine Wünsche und Bedürfnisse zu erfüllen.
Beratung praktisch nur mit Medienwechsel möglich
Das aber lässt sich im standardisierten Fernabsatz über das Internet, Telefon oder Post so gar nicht umsetzen, es sei denn, man kombiniert eine standardisierte Erstansprache des Kunden mit einer Zwangsberatung, der fast nur per Medienwechsel umsetzbar ist - also beispielsweise einen Wechsel vom Internet in eine persönliche Beratung im Büro eines Versicherers oder beim Interessenten vor Ort.
Das aber entspricht offenkundig nicht den Wünschen vieler Kunden, die bestimmte Pflichtversicherungen und einfache, kleine Versicherungen ohne solchen Aufwand kaufen wollen. Auch Vermittler reißen sich in der Regel nicht darum, eine unwirtschaftliche persönliche Beratung zu einer Kfz-Haftpflichtversicherung oder einer Zahnzusatzversicherung leisten zu müssen. Das Kfz-Versicherungsgeschäft beispielsweise galt schon immer als Zuschussgeschäft, das sich ein Vermittler nur leisten kann, wenn eine realistische Aussicht auf andere, provisionsträchtigere Abschlüsse besteht.
Pragmatische Lösung der Richtlinie
Der erwähnte Artikel 20 IDD sieht deshalb vor, dass es auch einen Vertrieb ohne Beratung geben kann, bei dem aber bestimmte Standards eingehalten werden müssen. Als solche Standards gelten die Befragung nach Wünschen und Bedürfnissen des Kunden, die Auswahl eines dazu passenden Produkts sowie eine objektive Information, anhand derer der Kunde eine wohlinformierte Entscheidung treffen kann. Das Ganze soll auch in Textform zugehen. Dies alles lässt sich komplett standardisieren und daher im Fernabsatz umsetzen.
Man könnte daher sagen, dass die Befragungs-, Begründungs- und Dokumentationspflicht nach dem deutschen VVG auch über die Richtlinie vorgeschrieben sind, nicht aber die Beratungspflicht.
Problem Beratungsverzicht
Dennoch hat sich der deutsche Gesetzgeber entschieden, die bisherige umfassende Pflicht zur Beratung im VVG beizubehalten. Dabei versteht das VVG unter Beratung offenbar auch die Befragung, Begründung und Dokumentation.
Das Problem, das der Gesetzgeber damit geschaffen hat, liegt im Verzichtsrecht, das im Wesentlichen unverändert beibehalten wurde. Denn ein Beratungs- und Dokumentationsverzicht befreit den Versicherer oder den Vermittler auch von der Befragung, Begründung und Dokumentation, mithin von den unabdingbaren Pflichten nach Artikel 20 IDD beim Vertrieb ohne Beratung.
Dieser Verzicht ist seit 23. Februar 2018 scheinbar erleichtert worden, wenn er im Fernabsatz eingesetzt wird. Danach reicht nun die Text- statt der nur mit Medienbruch umsetzbare Schriftform. Trotzdem wirkt dieser Verzicht aber auf den gesamten Pflichtenkanon, was offensichtlich nicht konform ist mit der IDD.
Bunte Umsetzung: Verzicht, kein Verzicht, keine Beratung
Die Umsetzung seit 23. Februar 2018 ist relativ bunt, wie einige exemplarische Beispiele zeigen. Es gibt Versicherungsunternehmen, die nun dem Kunden beim Aufruf eines Online-Tarifrechners anbieten, entweder in eine Beratung zu wechseln oder den Onlineabschluss ohne Beratung fortzusetzen. Dazu muss dann ein Häkchen in einem Ankreuzfeld gesetzt werden, wonach der Kunde auf die Beratung verzichtet und sich der damit verbundenen Nachteile bewusst ist.
- Ein Versicherer formuliert dies wie folgt: "Bitte lesen Sie den nachfolgenden Hinweis und bestätigen Sie durch Anklicken Ihr Einverständnis: Durch Ausfüllen des folgenden Feldes 'Antrag stellen' verzichten Sie auf eine Beratung bei Antragstellung. Infolgedessen könnten die XY Versicherung und der Vertreter keine Gewähr und Haftung dafür übernehmen, dass das von Ihnen ausgewählte Produkt ihren Wünschen und individuellen Bedürfnissen entspricht."
Eigentlich verlangt das VVG an dieser Stelle auch eine Nachteilsaufklärung, dass die Durchsetzung von Schadensersatzansprüchen durch den Verzicht erschwert wird.
- Andere Versicherer verzichten auf den Verzicht und leiten den Kunden zügig zum Onlineabschluss, stets aber auffällig mit einem Hinweis verbunden, wie ihn ein Versicherer formuliert: "Sie haben Fragen? Wir helfen gerne! Rufen Sie uns an oder kontaktieren Sie eine Agentur Ihrer Wahl." Dies wird mit einer Angabe von Telefonnummer, Call back-Button und einer Agenturauswahlfunktion verbunden.
- Wieder andere Versicherer bieten sowohl den beratungsfreien Onlineabschluss als auch die Weiterleitung des Kunden in eine Beratung oder eine Angebotsstellung an, aber auch ohne einen Verzicht aktiv anzubieten.
Makler machen weiter wie bisher
Interessant ist auch die Umsetzung bei einigen wenigen, exemplarisch betrachteten Maklern und als Makler tätigen Vergleichsportalen: Hier hat der 23. Februar 2018 erkennbar gar nicht stattgefunden. Es wird weiter online abgeschlossen, was auch immer der Kunde sich auswählt, und allenfalls verschämt am Rand außerhalb des direkten Blickfelds eine Telefonnummer zur weiteren Beratung angeboten. Selbst die Erstinformation als Vermittler, die nach dem Verfahren des Berufsverbands BVK gegen Check24 nun wirklich allen geläufig sein sollte, findet sich nach wie vor teilweise nur im Impressum und nicht da, wo der "erste Geschäftskontakt" offenkundig stattfindet.
Wie fast schon zu erwarten, hat die wenig durchdachte Umsetzung des Artikels 20 IDD nun zu einem unübersichtlichen Durcheinander an Lösungen beigetragen. Ärgerlich für die Anbieter: Sie werden wohl erst in einigen Jahren und nach einigen Gerichtsverfahren genauer wissen, welche der hier praktizierten Lösungen die richtige war. Das hätte der Gesetzgeber der Branche ersparen können.
Autor(en): Matthias Beenken