Die Beschäftigten auch der Versicherungsbranche wünschen sich mehr Flexibilität bei der Wahl des Arbeitsortes. Aktuell ist ein Zeitfenster entstanden, in dem die Tarifautonomie ihre Stärke beweisen kann.
83 Prozent der Versicherungsbeschäftigten haben ihre Haltung zur Heimarbeit positiv verändert, seit sie im ersten Lockdown des Frühjahrs nahezu flächendeckend dazu gezwungen wurden (Beschäftigte wollen Recht auf Homeoffice). Selbst in kleineren Vermittlerbüros wurde zeitweise aus dem Homeoffice gearbeitet, ohne dass die Betriebe unter dieser Arbeitsverlagerung nachhaltig gelitten hätten (Corona bremst die Makler aus).
Erfahrungen auf die Zukunft übertragbar?
Auch andere Umfragen kamen zu ähnlichen Ergebnissen. Überall da, wo Verwaltungstätigkeiten anfallen und sich die Informationstechnik einigermaßen anschlussfähig zeigte, wurden Beschäftigte mit Notebooks ausgestattet und aufgefordert, ganz oder zeitweise von zuhause aus weiterzuarbeiten.
Inzwischen ist allerdings ein Meinungsstreit darüber entbrannt, ob die guten Erfahrungen aus dem Lockdown auch auf die Zeit nach der Pandemie übertragbar sind. Die Umfrage der Neuen Assekuranz Gewerkschaft (NAG) jedenfalls kam zu einem klaren Ja in dieser Frage - die Beschäftigten wollen weit mehrheitlich auch künftig von zuhause arbeiten können. Allerdings soll dies auf freiwilliger Basis erfolgen, idealerweise auch kurzfristig nach den individuellen Bedürfnissen der Arbeitnehmer.
Arbeitgeber bestreiten Produktivität im Homeoffice
Dass das von Arbeitgeberseite nicht unwidersprochen bleibt, war zu erwarten. So griff eine Studie des Ifo-Instituts im Auftrag der Stiftung Familienunternehmen ein zentrales Argument der Befürworter flexibler Homeoffice-Lösungen an, die Produktivität. So hatten Arbeitnehmer unter anderem in der Studie der NAG angegeben, ihre Produktivität sei mehrheitlich mindestens nicht zurückgegangen, teilweise sogar gestiegen. Vor allem Beschäftigte, die vor Corona in Großraumbüros arbeiten mussten, berichteten positiv von der Möglichkeit, zuhause konzentrierter arbeiten zu können.
Die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" (FAZ) berichtet über ein anderes Bild, das Ifo gestützt auf die Aussagen von knapp 1.100 Betrieben und damit von Arbeitgebern zeichnet. Nur knapp sechs Prozent der Betriebe hätten eine steigende, aber 27 Prozent eine sinkende Produktivität beobachtet. Vor allem kleinere Betriebe hätten sich kritisch geäußert. Erklärt wird dies mit dem Fehlen des sozialen Austauschs.
Der allerdings scheint jedenfalls in der Versicherungsbranche besser als erwartet zu funktionieren, wenn man der NAG-Befragung folgt. Möglicherweise sind größere Betriebe professioneller organisiert und erfahrener darin, auch Führung auf Distanz zu praktizieren sowie soziale Interaktion auch mit Mitteln wie Videokonferenzen zu organisieren.
FAZ beschwört das Elend der Heimarbeit
Ob man deshalb eine Rückkehr zum "Elend der Heimarbeit" beobachten kann, an das Ralph Bollmann in einem historischen Abriss im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung erinnert, erscheint mehr als fraglich. Bollmann zufolge sei es verwunderlich, warum Gewerkschaften für Homeoffice stimmten, denn in ihrer Geschichte hätten sie lange gerade gegen die Heimarbeit und für eine klare Trennung von Privatem und Arbeit gekämpft.
Unter anderem der Weberaufstand Mitte des 19. Jahrhunderts zeigte, unter welch schlechten Bedingungen Arbeiter einst beschäftigt wurden. Sie mussten als Scheinselbstständige zuhause arbeiten und ersparten den Arbeitgebern teuren Fabrikraum und geregelte Arbeitsbedingungen. Auch wenn der Rückblick in die Geschichte oft wichtige Erkenntnisse liefert, in diesem Fall erscheint er doch recht weit hergeholt. Dass heutige, hochbezahlte und am Arbeitsmarkt begehrte Wissensarbeiter im Elend ihrer viel zu kleinen Wohnungen versinken und kaum wissen, wie sie ihre Familien ernähren und ohne Schutz von Sozialversicherungen jederzeit kündbar zwölf Stunden am Tag und an sechs Wochentagen arbeiten, dafür gibt es nun wirklich keine Anzeichen.
Arbeitsminister zieht Gesetzesvorschlag zurück
Allerdings scheint eine Front vorerst geräumt zu sein: Wie die FAZ auch berichtet, hat Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) seinen Vorstoß für ein Gesetz zur Etablierung eines Rechtsanspruchs auf 24 Tage Homeoffice im Jahr zurückgezogen. Denn ein solches Gesetz war mit dem Koalitionspartner nicht abgestimmt und traf dort auf erbitterten Widerstand.
So wird Bundeswirtschaftsminister Altmaier (CDU) zitiert, er habe "keinerlei Sympathie für Rechtsansprüche, die nur einigen wenigen Arbeitnehmern zugutekommen". Damit bezog er sich auf die Tatsache, dass viele Berufsstände von Homeoffice gar nicht profitieren könnten. Ein Chirurg wird seine Patienten nicht auf dem heimischen Küchentisch operieren und die Krankenschwester diesen anschließend in der eigenen Wohnung gesund pflegen oder der Bäcker dort seine Brötchen backen können.
Tarifautonomie stärken
Mit dem vorläufigen Rückzug des Gesetzgebers ist ein Freiraum entstanden, den unter anderem die Versicherungsbranche nutzen sollte. Es gab in der jüngeren Vergangenheit mehrfach Gesetzesinitiativen, die die in Deutschland in Jahrzehnten etablierte und bewährte Tarifautonomie eingeschränkt haben.
Das Recht darauf, dass die Tarifparteien selbst die Arbeitsbedingungen regeln, ist aus guten Gründen in der Nachkriegszeit im deutschen Arbeitsrecht festgeschrieben worden. Tarifverträge oder auch Betriebsvereinbarungen zwischen den Parteien im Betrieb selbst sind oft besser geeignet, den Bedürfnissen einer Branche oder eines Betriebs gerecht zu werden als pauschal für alle Branchen geltende Gesetze.
Insofern ist jetzt die Zeit, die Wahl des Arbeitsortes und der Arbeitsbedingungen in den Betrieben der Versicherungsbranche zu regeln. Je mehr Betriebs- oder tarifvertragliche Vereinbarungen bestehen, desto weniger Anlass gibt es für künftige Bundesregierungen, erneut Hand an die Tarifautonomie zu legen. Das nutzt beiden Seiten, Arbeitgebern wie Arbeitnehmern.
Autor(en): Matthias Beenken