Die Versicherungsvertriebsrichtlinie folgt dem Prinzip gleicher Wettbewerbsbedingungen für Versicherer und für Vermittler, zum Beispiel in Sachen Beratung und Information des Kunden. So richtig gelungen ist der Transfer in das deutsche Recht aber nicht.
"Als der Gesetzgeber die Beratungspflichten ins VVG aufnahm, ging er vorausschauend über die damals noch relativ dünnen Vorgaben der IMD hinaus", so Angela Regina Stöbener, Referentin im Bundeswirtschaftsministerium, in ihrer Doktorarbeit. "Er handelte sich damit Kritik ein."
Gute Vorarbeit schlecht genutzt
Nutzen der damals über die Versicherungsvermittlerrichtlinie hinausgehende, explizite Pflicht zur Befragung, Beratung und Dokumentation auch für Versicherungsunternehmen war, dass sich die Branche an die Beratungspflichten gewöhnt habe. Das hätte eigentlich bei der Umsetzung der Versicherungsvertriebsrichtlinie IDD eine große Hilfe sein können. Doch "dabei wird sehr ungenau vorgegangen", kritisiert Stöbener im Ergebnis die Arbeit des Nachbarressorts Bundesjustizministerium.
So gebe es Regelungslücken "wie der Zeitpunkt der Beratung und Dokumentation", die sich allerdings "noch leicht schließen" lassen. Aber in Sachen Verzichtsrecht werde "der Rechtsanwender im Stich gelassen". Denn offensichtlich weicht der Text im deutschen Versicherungsvertragsgesetz von demjenigen in Artikel 20 IDD empfindlich ab.
IDD kennt kein Verzichtsrecht auf Standards im Vertrieb
Während nach deutschem Recht der Kunde gegenüber Versicherer wie Vermittler einen Beratungs- und Dokumentationsverzicht erklären kann, durch den Versicherer und Vermittler aus sämtlichen Pflichten entlassen werden, ist die IDD hier strikt: Eine Befragung nach Wünschen und Bedürfnissen des Kunden, ein darauf angepasstes Angebot sowie eine dazu passende, objektive Begründung müssen sein, und dies auch in Textform und damit als Dokumentation. Verzichtbar laut IDD ist nur die Beratung im engeren Sinn, also die persönliche Empfehlung an den Kunden. Insofern führt das VVG Versicherer, Vermittler und Kunden gemeinsam in die Irre.
Auch die von der Bundesregierung behauptete "1:1-Umsetzung" der IDD sieht Stöbener nicht immer als gegeben an. Erstaunlicherweise allerdings hält sie die Beibehaltung der "Maklerausnahme" nach § 6 Absatz 6 VVG für eine 1:1-Umsetzung. Hierdurch kann aber die Situation entstehen, dass ein Makler per Vertrag nur bis zur erfolgreichen Vermittlung eines Vertragsschlusses verantwortlich ist, danach aber der Kunde weder vom Makler noch eben auch vom Versicherer beraten werden muss, sofern sich ein Anlass dazu ergibt. Diese Lücke scheint entweder nicht bedacht oder in Kauf genommen worden zu sein. Vielleicht muss sie auch erst noch von der Rechtsprechung ausgefüllt werden - eine Sicherstellung gleicher Wettbewerbsbedingungen und damit auch gleichen Verbraucherschutzes egal bei welchem Vertriebsweg sieht wohl anders aus.
Beratungsqualität wird durch die IDD nicht besser
Die Richtlinie IDD selbst kritisiert Stöbener ebenfalls als teilweise über das Ziel hinausschießend. Zwar will sie sich dem Begriff "Regulierungstsunami" nicht anschließen, den der Trierer Rechtsgelehrte Reiff dafür prägte. Aber ob die IDD „die Qualität der Beratung tatsächlich verbessern“ könne, hält sie für "fraglich". Als Gegenargumente nennt sie die teils sehr weitgehenden, detaillierten Regeln, die einen hohen bürokratischen Aufwand verursachen.
Auch könne sich die Beratungsdokumentation durchaus nachteilig für den Kunden auswirken, wenn sie so ausführlich erstellt wird, dass der Kunde sie deswegen nicht mehr versteht. Allzu groß dürfte diese Gefahr allerdings nicht sein, denn bisher deuten verschiedene Untersuchungen und Einzelbeobachtungen eher darauf hin, dass die Beratungsdokumentation wenn, dann doch eher aussagearm knapp und hochgradig standardisiert erfolgt. Kritik daran haben sowohl eine Studie für das Bundesjustizministerium als auch mehrfach der Versicherungsombudsmann in seinen Tätigkeitsberichten geübt.
Allfinanzberatung wäre wünschenswert
Die europäische Regulierung, die weiter getrennt die Sektoren Anlagen und Versicherungen betrachtet, führt bislang nicht zu einer Förderung des Allfinanzgedankens. "Aus der Perspektive des Kunden wäre eine solche Allfinanzberatung von Vorteil", meint die Autorin mit Bezug auf die Altersvorsorge, in der verschiedene Produktkategorien von Interesse sein können.
Zudem habe die Europäische Union etwas aus dem Blick verloren, dass der Regulierungsbedarf bei Anlagen beziehungsweise Versicherungsanlageprodukten auf der einen und einfachen Versicherungen des alltäglichen Bedarfs auf der anderen Seite höchst unterschiedlich ist. Beispielsweise spielen bei Schadenversicherungen die Verwaltungskosten des Versicherers keine Rolle für den Kunden, weil es keine Rendite zu schmälern gibt - der Anspruch des Kunden ist vertraglich definiert. Darum müsse der Kunde auch nicht mit Informationen behelligt werden, die bei einer Anlage sehr sinnvoll sind.
Rechtslage umfassend dargestellt
Weiter setzt sich die Autorin mit den nach Produktkategorien recht unterschiedlichen Ansätzen der Regulierung von Finanzdienstleistungen auseinander und zeigt auf, dass die EU keineswegs einheitliche Vorgehensweisen gerade bei der Beratung des Kunden gewählt hat. Sie beendet ihre Arbeit daher auch mit Vorschlägen für eine künftige Harmonisierung der Regulierung im Interesse einerseits einer Förderung des Europäischen Binnenmarkts, der bei Versicherungen bisher eher unterentwickelt ist, aber andererseits auch einer freien Entfaltung der Wirtschaftsunternehmen auf der Basis nationaler Rechtsetzungstraditionen.
Im Übrigen wurden in dieser Dissertation mit beachtlichem Fleiß über hunderte Seiten die frühere und die aktuelle Rechtslage bei den Beratungspflichten des Versicherers dargestellt und die zahlreichen Rechtsfragen ausgeleuchtet, die hierzu bereits in der Literatur wie in der nicht nur nationalen Rechtsprechung gestellt wurden.
Lesetipp
Angela Regina Stöbener: Beratungspflichten des Versicherers, Von der Anlassrechtsprechung zur IDD, 594 Seiten Din A 5, ISBN 978-3-96329-009-1, 64 Euro Print oder 49,99 Euro E-Book, 2018 Verlag Versicherungswirtschaft.
Autor(en): Matthias Beenken