Ghislain Perisse, globaler Leiter des Versicherungsbereichs beim Finanzdienstleistungsinstitut Fidelity, und Annika Milz, Co-Head Institutionelle Kunden in Europa und Leiterin Institutionelle Kunden Deutschland, erläutern im Interview die Chancen und Risiken von ESG-Regulierungen, die richtige Reaktion auf Inflation und die Zinswende und wie Fidelity Versicherungsunternehmen unterstützen will.
Mit welchen Herausforderungen sind Versicherer heute konfrontiert?
Ghislain Perisse: Die Rahmenbedingungen für Versicherer haben sich in den vergangenen Jahren erheblich verändert. Auf der Anlageseite haben unter anderem die Zinswende, der Krieg in der Ukraine, neue regulatorischen Anforderungen und die Inflation dazu geführt, dass Versicherer ihre Anlagestrategien zu überdenken haben. Zwar gab es immer schon Herausforderungen an den Börsen und Marktturbulenzen, seit der Corona-Pandemie sind jedoch ESG-Aspekte noch stärker in den Fokus gerückt.
Diese Themenfelder müssen von den Anlageverantwortlichen in Versicherungen erkannt, richtig eingeordnet und in die Anlagewelt übersetzt werden. Jedoch verfügen selbst größere Versicherer nur selten über die erforderlichen Research-Kapazitäten. Gerade in einem Umfeld, in dem sich vermeintlich ähnliche Emittenten derselben Branche höchst unterschiedlich entwickeln können, ist ein Bottom-up-Research unabdingbar, um Anlagechancen und -risiken beurteilen zu können. Hier haben Versicherer entweder ihre Teams auszubauen oder auf das Know-how von entsprechend ausgerichteten Asset Managern zuzugreifen. Wichtig ist zudem, dass Versicherer ihr Produktangebot an die neue Zinssituation anpassen und wettbewerbsfähige und renditestärkere Produkte anbieten.
Sie sagen, Versicherungsunternehmen benötigen mehr Analysen, um die Entwicklungen der verschiedenen Branchen national und international bewerten zu können, um ihre Anlagestrategien danach auszurichten. Können Sie diese Anforderung noch näher erläutern?
Unternehmen sind heute vielfältigen Herausforderungen ausgesetzt: höhere Zinsen, Inflation, die Folgen des Ukrainekriegs und geopolitische Spannungen, um nur einige zu nennen. Diese Faktoren treffen nicht nur Branchen auf unterschiedliche Weise, sondern auch Unternehmen sehr individuell, beispielsweise in Abhängigkeit zu ihrer Verschuldungssituation, zu ihren Lieferketten, ihrer ESG-Strategie oder ihrer Personalausstattung. All dies erfordert eine genaue Analyse der Unternehmen, um den Wert und die Perspektiven für ihre Aktien und Anleihen besser einschätzen zu können.
Die Solvency II-Richtlinie und die Anforderungen zum Thema Nachhaltigkeit erhöhen die Anforderungen an die Portfolios der Versicherer. Welche Lösungsansätze gibt es hier aus Ihrer Sicht?
Solvency II ermöglicht es, das Risikomanagement der Versicherungsbilanz zu strukturieren: Die Versicherer müssen die potenziellen Renditen aller Anlageklassen und deren Risiken bewerten und eine angemessene strategische Allokation zur Optimierung der Kapitalrendite vornehmen. Es zwingt die Versicherer zu mehr Wissen und zu einer dynamischeren Allokation, insbesondere wenn es – wie in den vergangenen zwölf Monaten – einige Änderungen im System gibt. Die Nachhaltigkeitsvorschriften verlangen von Versicherern, dass sie die Auswirkungen von E-, S- oder G-Risiken auf den Wert ihrer Vermögenswerte und Verbindlichkeiten berücksichtigen. Auch das ist mit viel Arbeit verbunden. Sie können also die Erfahrung von Vermögensverwaltern mit fundiertem Research und einem umfassenden ALM-Verständnis nutzen.
Welche Chancen und welche Risken bietet die ESG-Regulierung für Versicherer insgesamt?
Nachhaltigkeitskriterien spielen bei den Investitionen von Versicherern eine immer wichtigere Rolle. So sind Versicherer unter anderem verpflichtet, ihre Kunden nach deren Nachhaltigkeitspräferenzen zu befragen und die passenden Produkte anzubieten. Bei fondsgebundenen Versicherungslösungen kommen hierfür zum Beispiel Themenfonds mit den Schwerpunkten Klima, Wasser und Biodiversität in Fragen, um die strategische Vermögensaufteilung zu verfeinern. Ein anderes Beispiel sind Immobilieninvestments, bei denen Sanierungs-Strategien an Bedeutung gewinnen. Last but not least gibt es im Bereich Private Credit kleine und mittelgroße Unternehmen, deren CO2-Bilanz sehr viel vorteilhafter als bei High-Yield-Strategien ist. Das gewichtigste ESG-Risiko für Versicherer ist meiner Einschätzung nach das Reputationsrisiko, also, wenn in puncto ESG mehr versprochen als geleistet wird.
Was kann Ihr Unternehmen tun, um Versicherer dabei zu unterstützen, ihre Anlagestrategien und ihre Produkte an die aktuellen Anforderungen anzupassen?
Fidelity hat ein rund 25-köpfiges Versicherungsteam, das Versicherer global berät. Besonderes Interesse haben Versicherer unter anderem daran, Trends bei Produkten und Anlageideen sowie Research von uns zu beziehen sowie die Auswirkungen regulatorischer Vorschriften zu diskutieren. Zunehmende Nachfrage sehen wir zudem bei der Analyse von Versicherungsportfolios nach verschiedenen Gesichtspunkten, wie die Kreditanalyse von Unternehmensanleihen, die Renditeoptimierung mit angestrebten Portfolio-Solvabilitätskoeffizienten und ESG-Beschränkungen, sowie potenziellen Dekarbonisierungspfaden.
Wie organisieren Sie Ihren Bereich, um besser auf die spezifischen Kundenbedürfnisse eingehen zu können?
Annika Milz: Es ist uns äußerst wichtig, passgenau auf Kundenanfragen und ihre Bedürfnisse zu reagieren. Unsere Kundenbetreuer sind daher im jeweiligen Land auf Kundensegmente spezialisiert und werden von Experten für die einzelnen Anlageklassen, wie beispielsweise Private Credit, unterstützt. Darüber hinaus haben wir kundenspezifische Kompetenzzentren wie unser Insurance Solutions-Team gegründet, das die Kundenbetreuer vor Ort mit ihrem regulatorischen und aktuariellen Know-how unterstützt. Damit vereinen wir lokale mit regulatorischer und Investment-Expertise.
Das Interview führte Anja Schüür-Langkau, Chefredakteurin Versicherungsmagazin, schriftlich.
Autor(en): Anja Schüür-Langkau