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Versicherungslexikon

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Versicherungsmarkt

1. Begriff

Ökonomischer Ort, auf dem Versicherungsschutz angeboten und nachgefragt wird. Die Marktparteien sind üblicherweise Versicherungsunternehmen (Erst- und Rückversicherer) als Anbieter und Haushalte oder Unternehmen als Nachfrager oder Versicherungskäufer, die meist durch Vermittler (Versicherungsvertreter, -makler) miteinander verbunden werden.

2. Funktionen

Wie jeder Markt erfüllt auch der Versicherungsmarkt bestimmte Funktionen und Aufgaben. Wegen der Eigenarten des Versicherungsprodukts (u.a. Zukunftsbezogenheit des Bedarfs, Immaterialität, Low-Interest-Charakter) kann es dazu kommen, dass individuell und sozial notwendige Versicherungen nicht zustande kommen. Deswegen haben viele Staaten den als sozial notwendig erachteten Grundbedarf an Versicherungsschutz zwangsweise gedeckt oder eine Verpflichtung statuiert und allgemein die Versicherungsunternehmen einer Aufsicht unterstellt.

3. Merkmale und Struktur des Versicherungsmarkts

Auf den ersten Blick scheinen die (Erst‑)Versicherungsmärkte wettbewerblich organisiert. So sind in Deutschland fast 3.000 Versicherungsunternehmen tätig, davon aber über 1.400 unter Bundes-und Landesaufsicht; der Rest sind sehr kleine Versicherungsunternehmen. Werden zudem Konzentrationsraten betrachtet (d.h. die Prämienanteile, die das größte, die drei, die fünf oder zehn größten Versicherungsunternehmen auf sich vereinen), ist zu erkennen, dass die drei großen Versicherungsmärkte (Lebensversicherung, Krankenversicherung und Schaden‑/Unfallversicherung) relativ stark konzentriert sind (vgl. die Tabelle mit den Zahlen für das Jahr 2014).

 

LV (93)

KV (48)

SUV (215)

1

3

5

10

20,5

31,8

40,2

56,1

14,6

36,9

50,1

71,2

12,9

23,4

33,1

47,0

Abb.: Konzentrationsraten in der Lebens-, Kranken- und Schaden‑/Unfallversicherung, gemessen an den verdienten Bruttoprämien im Jahr 2014 (in Klammern die Anzahl der großen Versicherungsunternehmen); Quelle: Statistik der BaFin – Erstversicherungsunternehmen 2014.

Unter Bundesaufsicht standen im Jahr 2014 insgesamt 548 Versicherungsunternehmen (GDV, Statistisches Taschenbuch, 2015, Tab. 2), die zusammen rund 192,439 Mrd. Euro (plus Rückversicherungsunternehmen mit 43,499 Mrd. Euro) Prämieneinnahmen verzeichneten. Neben 288 Aktiengesellschaften (AG) waren 257 Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit (VVaG), 17 öffentlich-rechtliche Versicherungsunternehmen und 6 Niederlassungen ausländischer Versicherungsunternehmen (GDV, Statistisches Taschenbuch, 2015, Tab. 3) auf dem deutschen Markt tätig. Die Aktiengesellschaften vereinten auch den größten Prämienanteil (82,7 %) auf sich (GDV, Statistisches Taschenbuch, 2015, Tab. 6).

Weitere Kennziffern zur Charakterisierung des Versicherungsmarkts sind die Versicherungsdurchdringung (Prämieneinnahmen/Bruttoinlandsprodukt) und die Versicherungsintensität (Prämieneinnahmen/Geldmenge M2 oder M3). Mit Hilfe dieser Kennziffern sind die Versicherungsmärkte auch international vergleichbar.

4. Entwicklungen

Versicherungen gehören zu den Finanzdienstleistungen, unterliegen also wie diese einer Regulierung. Während die Regulierung bis in die Mitte der 1990er-Jahre noch relativ streng war, wurden durch den Europäisierungsprozess (EU-Binnenmarkt) Lockerungen unter dem Stichwort der Deregulierung eingeführt. Die moderne Debatte kreist um Solvency II.

5. Theorie

Die Theorie des Versicherungsmarkts untersucht die Bestimmungsgründe für die in einem Markt abgeschlossenen Versicherungsverträge. Dabei greift sie auf die allgemeine Gleichgewichtstheorie und die Theorie der Entscheidung bei Unsicherheit zurück. Neuere Entwicklungen betonen insbesondere die Problematik, dass die Vertragspartner unterschiedlich gute Informationen haben und es ein Glaubwürdigkeitsproblem gibt.

a) Versicherungsmarkt bei vollständiger Information

(1) Versicherungsmarkt bei vollständigem Marktsystem

Das Modell basiert auf einer Tauschwirtschaft mit beliebig vielen Konsumenten (n = 1,…, N), die eine Anzahl von Umweltzuständen für möglich halten (s = 1,…, S) und die in jedem dieser Zustände eine Anfangsausstattung (gemessen entweder in Einkommen oder Konsumgütern) zur Verfügung haben (ωn s = (ωn1,…,ωnS)) sowie eine Nutzenfunktion über die verschiedenen Konsumpläne besitzen, die sich als Erwartungsnutzen darstellen lässt. Dabei ergeben sich die Konsumpläne aus der jeweiligen Anfangsausstattung abzüglich eines wahrscheinlichen Schadens. Ein Wettbewerbsgleichgewicht ist durch ein Versicherungspreissystem (Prämiensystem), ein System von Kassapreisen für die Güter, eine Versicherungsallokation und eine Konsumallokation beschrieben, derart, dass Angebot und Nachfrage auf allen Märkten, auf den Versicherungsmärkten jetzt (ex ante) und auf den Gütermärkten zu jedem späteren Zeitpunkt (ex post) ausgeglichen sind. Dabei kommt den Kassapreisen der Güter eine doppelte Rolle zu. Sie sind zum einen Preiserwartungen, die die Nachfrager bei ihren Versicherungsentscheidungen zugrunde legen, sie sind zum anderen aber auch die in der Zukunft tatsächlich realisierten Preise. Unter bestimmten Bedingungen gibt es immer ein solches Wettbewerbsgleichgewicht und es gelten die Hauptsätze der Wohlfahrtstheorie. Ist kein Unternehmen für sich in der Lage, die Preise, zu denen getauscht wird, zu verändern, kann das Modell auch auf eine Volkswirtschaft mit Produktion ausgedehnt werden. Es ist dabei unerheblich, ob die Unternehmen die Risiken der Produktion selbst versichern, oder ob deren Anteilseigner dafür eintreten. Es gilt ein Modigliani-Miller-Theorem.

(2) Versicherungsmarkt bei unvollständigem Marktsystem

Dies gilt nicht bei einem unvollständigen Marktsystem. Hier ist zum einen die Gewinnmaximierungshypothese der Unternehmen nicht mehr wohl definiert, weil die Gewinne jetzt unsicher sind und – je nach Risikoneigung – unterschiedlich bewertet werden. Zum anderen werden aus systematischen Gründen nicht mehr alle Konsumenten und Unternehmen gleichermaßen Zugang zu den verschiedenen Märkten haben. Hieraus ergibt sich eine Reihe von Problemen, die an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden können. So könnte sich ergeben, dass der Versicherungsmarkt wegen der Risikoaversion der Versicherungsunternehmen und des Gesetzes der großen Zahlen ein natürliches Monopol oder Oligopol ist.

b) Versicherungsmarkt mit unvollständiger Information

(1) Typen unvollständiger Information

Versicherungsunternehmen und Versicherungskäufer sind unterschiedlich gut über die für den Versicherungsvertrag maßgeblichen Risiken informiert. Dabei werden asymmetrische Informationen über objektive Eigenschaften vor Vertragsabschluss (hidden characteristics) und über das subjektive Verhalten der Vertragspartner nach Vertragsabschluss unterschieden. Der erste Fall wird gewöhnlich als Problem der adversen Selektion (negative Auslese), der zweite Fall als das Problem des moralischen Risikos bezeichnet.

(2) Adverse Selektion

Das Modell geht davon aus, dass die Versicherungskäufer unterschiedliche Schadeneintrittswahrscheinlichkeiten haben und sie kennen. Nun sei ein Versicherungsunternehmen gegeben, das jedoch lediglich den Durchschnitt kennt und deshalb nur einen Vertrag mit genereller Prämie anbieten wird (VU A). Dieser Vertrag ist aber für die Risiken mit der geringeren Schadeneintrittswahrscheinlichkeit (sog. „gute Risiken“) zu teuer und für die Risiken mit der höheren Schadeneintrittswahrscheinlichkeit (sog. „schlechte Risiken“) zu billig. Diesen Tatbestand kann nun ein anderes Versicherungsunternehmen (VU B) ausnutzen, indem es einen Versicherungsvertrag mit etwas niedrigerer Prämie und/oder leicht höherer Selbstbeteiligung derart konstruiert und anbietet, dass die guten Risiken diesen neuen Vertrag dem Anfangsangebot vorziehen, nicht aber die schlechten Risiken. Denn die schlechten Risiken werden keine Neigung haben, (gegen einen Preisabschlag) einen Selbstbehalt zu akzeptieren. Jetzt erzielt das erste Versicherungsunternehmen (VU A) Verluste mit seinen Verträgen, weil die guten Risiken abwandern. Es wird sein Vertragsangebot also vom Markt nehmen, was nun die schlechten Risiken veranlasst, doch den neuen Vertrag bei dem anderen Versicherer (also bei VU B) zu kaufen, der jetzt aber, wenn sich beide Risikoklassen dafür entscheiden, ebenfalls einen Verlust erwirtschaftet. Es ist leicht zu erkennen, dass dieser Wettbewerb ruinös sein kann. Andererseits kann ein Versicherungsunternehmen immer einen Vollversicherungsvertrag für die schlechten Risiken zu einem fairen Preis anbieten. Nicht zu kontrollieren ist aber, wenn ein Versicherungskäufer behauptet, ein gutes Risiko zu sein. Folglich muss sich dieser durch einen mehr oder weniger großen Selbstbehalt als gutes Risiko „selbst selektieren“. In einem Wettbewerbsgleichgewicht – wenn es überhaupt existiert – ergibt sich eine Versicherungsallokation derart, dass die unterschiedlichen Risikogruppen Versicherungsverträge ohne oder mit unterschiedlich hohen Selbstbehalten zu fairen Prämien abschließen.

(3) Moralisches Risiko

Unterstellt wird hier, dass entweder der Schadenumfang oder die Schadeneintrittswahrscheinlichkeit vom Verhalten des Versicherungskäufers abhängt, und der Zusammenhang mit Maßnahmen der Schadenverhütung und Sorgfalt zwar i.Allg. bekannt ist, aber vom Versicherungsunternehmen in den Einzelfällen nicht beobachtet werden kann. Auch hier bieten sich Selbstbeteiligungen an: Je höher die Selbstbeteiligung ist, desto höher ist der Anreiz, durch Schadenverhütung den Schaden klein zu halten.

6. Offene Probleme

In der wissenschaftlichen Diskussion wurden insbesondere die Probleme der asymmetrischen Information als Ausgangspunkte für die Notwendigkeit staatlicher Regulierung herangezogen. Einerseits sollte dadurch eine ruinöse Konkurrenz zwischen den Versicherungsunternehmen vermieden werden. Andererseits könnten damit auch Verteilungsprobleme gelöst werden, indem die guten Risiken die schlechten Risiken subventionieren, eine Thematik, die z.B. im Zusammenhang mit genetischen Tests in der Lebens- und Krankenversicherung relevant wird. Auch würde der Versicherungsmarkt bei moralischem Risiko zusammenbrechen, weil der Mehrfachkauf von Versicherungsverträgen nicht zu unterbinden ist. Gänzlich unerforscht sind die Implikationen asymmetrischer Informationen zulasten der Versicherungskäufer. Dabei geht es um das moralische Risiko auf Seiten des Versicherungsunternehmens. Auch hier ist damit zu rechnen, dass es ohne staatliche Eingriffe nicht zu einer optimalen Allokation kommt.

Literatur: BaFin (Hrsg.): Statistik der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht – Erstversicherungsunternehmen 2014, Bonn 2015 URL: http://www.bafin.de/SharedDocs/Downloads/DE/Statistik/Erstversicherer/dl_st_13_erstvu_gesamt_va.pdf?__blob=publicationFile&v=4; GDV (Hrsg.), Statistisches Taschenbuch der Versicherungswirtschaft 2014, Berlin 2015.

Autor(en): Professor (em.) Dr. Dr. h.c. Roland Eisen

 

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