Schadenmanagement
Das Schadenmanagement ist in einem Kompositversicherungsunternehmen eine der wichtigsten Funktionen, die über die bloße Schadenregulierung deutlich hinausgeht. Die Bedeutung des Schadenmanagements speist sich aus mehreren Quellen: erstens aus der Beziehung zum Kunden im „moment of truth“, bei dem es darauf ankommt, die bis dahin unsichtbare Versicherungsleistung (Risikotragung) durch die Schadenabwicklung, die Schadenservices und die Entschädigungsleistung sichtbar und für den Kunden erlebbar zu machen, zweitens aus der Tatsache, dass in einem Kompositversicherungsunternehmen die Schäden der mit Abstand größte Kostenblock sind und drittens weil die Informationen und Daten aus den Schadenfällen die Basis für die künftige Produktentwicklung und Tarifierung bilden. Die Herausforderung des Schadenmanagements besteht darin, die Ziele Effektivität (die richtigen Dinge tun), Effizienz (die Dinge richtig tun) und Kundenzufriedenheit in eine ausgewogene Balance zu bringen.
Der Begriff „Schadenmanagement“ wird bisweilen auch als Bezeichnung für eine Organisationseinheit in einem Versicherungsunternehmen verwendet, die die Abläufe und Prozesse der Schadenabteilungen definiert und für die Synchronisation von Organisation und IT-Unterstützung sowie die Weiterentwicklung der Schadenserviceleistungen (z.B. im Rahmen eines Netzwerkmanagements) beim Versicherer sorgt.
Inhaltlich umfasst das sog. „aktive Schadenmanagement“ insbesondere die Steuerung des Schadenbehebungsprozesses (z.B. Abschleppen, Werkstattvermittlung, Gebäudesanierung etc.) durch die Vermittlung von Dienstleistern (z.B. Kfz-Werkstätten oder Bautrocknungsunternehmen) aus dem Partnernetzwerk des Versicherers und damit zusammenhängende Serviceleistungen (z.B. Vermittlung eines Ersatzfahrzeugs, eines Restwertangebots, eines Vertrauensanwalts, einer Spezialklinik, Beratungsleistungen im Zusammenhang mit der Rückstufung des Schadenfreiheitsrabatts usw.).
Im Einzelnen können die Funktionen, die eine Schadenorganisation leistet oder leisten sollte, in solche Tätigkeiten unterteilt werden, die entlang der Wertschöpfungskette anfallen werden, ferner in Querschnittsfunktionen sowie in Spezialthemen, die in sich abgrenzbar sind und am besten im Gesamtzusammenhang und nicht als Teil der Wertschöpfungskette dargestellt werden (vgl. Abb. 1).
Abb. 1: Funktionen entlang der Wertschöpfungskette sowie Querschnittsaufgaben und Spezialthemen einer Schadenorganisation, Quelle: Allianz SE.
Der Ablauf der Schadenregulierung, die in jedem Versicherungszweig ihre Besonderheiten aufweist, kann allgemein in folgende Prozessabschnitte untergliedert werden:
- Entgegennahme der Schadenmeldung (per Telefon, Email, Fax, Brief, Online-Meldung).
- Schadenzuteilung, d.h. Zuordnung des Schadens zu einer Organisationseinheit innerhalb der Schadenorganisation (z.B. Schnellschaden-Team) oder bestimmten Schadenbearbeitern mit speziellen Kenntnissen (z.B. Berufshaftpflicht, Personenschäden etc.).
- (Formelle) Deckungsprüfung, also die Prüfung, ob ein Versicherungsvertrag besteht, ob das Schadenereignis in den versicherten Zeitraum fällt und ob der Kunde seine Erst- oder Folgeprämie bezahlt hat.
- Reservesetzung: Damit ist die Dotierung einer Erstreserve auf Basis der vorhandenen Informationen zum Schaden gemeint. Sofern die Informationen keine konkrete Schätzung des Schadenumfangs zulassen, wird i.d.R. eine pauschale Reserve gesetzt, die sich am Durchschnitt entsprechender Schäden orientiert.
- Haftungsprüfung: In Haftpflichtfällen ist neben der Deckung die zivilrechtliche Haftung des Versicherungsnehmers für den Schaden zu prüfen.
- Die Steuerung und Serviceangebote an den Versicherungsnehmer oder Geschädigten betreffen das bereits erwähnte sog. aktive Schadenmanagement, das seit Mitte der 1990er Jahre eine zunehmende Bedeutung erlangt hat, v.a. in der Kraftfahrzeugversicherung. Ziel ist es, möglichst früh Einfluss auf den Schadenbehebungsprozess zu nehmen, um die Schadenkosten so gering wie möglich zu halten. Dies geschieht z.B. durch Vermeidung von Nebenkosten, wie Rechtsanwalts- oder Sachverständigengebühren, Realisierung von Großkundenkonditionen bei Partnerwerkstätten, Verringerung der Reparaturdauer und damit zusammenhängender, kostenverursachender Ausfallzeiten (Nutzungsausfall, Mietwagenkosten), Verhinderung der Schadenausweitung (in der Sachversicherung z.B. auch durch Bautrocknungsmaßnahmen, Ruß- oder Chlorid-Dekontamination) usw. Die Versicherungsunternehmen versuchen sich damit zunehmend als Serviceleister zu positionieren und die Rolle als „Zahlmeister“ zu verlassen. Die Vernetzung von Schadenbearbeitung und zusätzlichen Schadenservices ist dabei einer der Megatrends der Branche. Die Services, die Versicherer rund um den Schadenfall anbieten, werden i.d.R. nicht vom Versicherer in Eigenregie erbracht. Vielmehr werden spezialisierte Dienstleister eingeschaltet.
- Die Ermittlung des dem Schadenfall zugrunde liegenden Sachverhalts und des Schadenumfangs bildet die Basis für die anschließende Regulierungsentscheidung. Zur Feststellung der Höhe des Schadens werden nicht selten Sachverständige eingesetzt. Gleiches gilt für Schadenfälle, bei denen die Ursachenermittlung tatsächlich oder technisch schwierig ist und von einem Sachbearbeiter nicht geleistet werden kann.
- Die Einzelschadenreserve ist nicht nur regelmäßig zu prüfen, sondern auch jeweils dem aktuellen Kenntnisstand anzupassen (nach oben wie nach unten). Dies geschieht im Zusammenhang mit dem Erhalt neuer Informationen oder routinemäßig in regelmäßigen zeitlichen Abständen, auch um sicherzustellen, dass Schäden geschlossen und Reserven aufgelöst werden können, wenn der Fall keine weitere Zahlung mehr erwarten lässt.
- Nicht selten kommt es zu (außergerichtlichen) Verhandlungen über die Höhe der Entschädigung, insbesondere bei größeren oder komplexeren Schäden. Ebenso sind Verhandlungen mit Sozialversicherungsträgern über deren geltend gemachte Regresse zu führen, soweit keine Teilungsabkommen bestehen.
- Am Ende der Prüfung des Versicherungsfalls steht eine Regulierungsentscheidung. Diese kann zur vollständigen oder teilweisen Zahlung oder auch zur Ablehnung führen. In den Zweigen der Haftpflichtversicherung schuldet der Versicherer seinem Versicherungsnehmer auch den sog. passiven Rechtsschutz. Das heißt er versucht auf der Seite des Versicherungsnehmers einen unberechtigten Schadenersatzanspruch abzuwehren und übernimmt hierfür auch die Kosten – z.B. für die Inanspruchnahme von Rechtsanwälten und Gerichten.
- Sofern der Versicherungsnehmer oder ein Geschädigter mit der Regulierungsentscheidung des Versicherers nicht einverstanden ist, schließt sich u.U. ein Gerichtsverfahren über den geltend gemachten Anspruch an. Diese Deckungs- oder Haftungsprozesse werden häufig von speziellen Sachbearbeitern oder Teams mit juristischer Ausbildung auf Seiten des Versicherers und von Rechtsanwälten vor Gericht geführt.
- Nach Abschluss eines Schadens, der mit einer Zahlung geendet hat, kann der Versicherer ggf. verlangen, die von ihm erbrachte Leistung aufgrund eines Anspruchsübergangs nach § 86 VVG von einem schadenersatzpflichtigen Dritten ersetzt zu bekommen; der Versicherer kann also bei ihm Regress nehmen. Auch dies erfolgt häufig durch spezialisierte Sachbearbeiter des Versicherungsunternehmens.
- Die Schließung des Schadens beendet den Schadenregulierungsprozess. Der Status des Schadens wird im System auf „geschlossen“, eine ggf. noch vorhandene Reserve wird auf „0“ gesetzt. In Ausnahmefällen kann es zur Wiedereröffnung eines Schadens kommen, wenn noch eine Zahlung z.B. für ein Attest zu leisten ist. In der Regel wird der Schaden nach dieser Zahlung sofort wieder geschlossen.
Neben diesen Funktionen und Tätigkeiten entlang der Wertschöpfungskette obliegen einer Schadenorganisation die in der Abbildung genannten weiteren Funktionen. Je nach Größe des Versicherungsunternehmens und Zusammensetzung des Schadenportfolios werden die Querschnittsfunktionen (z.B. Dienstleistermanagement oder Kundenzufriedenheitsmanagement) und Spezialthemen bisweilen aber auch von anderen Unternehmensbereichen wahrgenommen bzw. bearbeitet.
Der Paradigmenwechsel der Versicherer vom „Zahlmeister“ zum Serviceleister führt auch dazu, dass sich das Berufsbild des eher passiven Schadensachbearbeiters zugunsten eines proaktiv handelnden Schadenmanagers gewandelt hat. Zu den traditionell erforderlichen fachlichen Fähigkeiten eines Schadensachbearbeiters (Produkt-, Rechtsprechungs-, IT‑/System- und schadentechnische Kompetenzen) sind weitere Anforderungen getreten, die heute das Berufsbild wesentlich prägen. Dazu gehören die Telefoniefähigkeit, Verhandlungs- und Überzeugungsgeschick, „verkäuferische“ Fähigkeiten in Bezug auf die angebotenen Services im Rahmen des aktiven Schadenmanagements, Koordinationstalent und eine ausgeprägte Entscheidungsfreude. Die Summe aller Anforderungen und die daraus resultierende Abwechslung jenseits der Tagesroutine machen heute die Attraktivität der Tätigkeit eines Schadenmanagers in einem Versicherungsunternehmen aus.
Auch wenn der grundsätzliche Ablauf der Schadenregulierung immer gleich zu sein scheint, haben die Versicherungsunternehmen z.T. sehr unterschiedliche Organisationsformen für das Schadenmanagement entwickelt. So arbeiten einige Versicherungsunternehmen in den Sachversicherungszweigen mit eigenen Außenregulierern, die Schäden vor Ort – z.B. per Scheck – abschließend regulieren oder in größeren Schadenfällen die Gesamtkoordination der zur Wiederherstellung notwendigen Tätigkeiten (z.B. der Aufräumarbeiten, Koordination der einzelnen Handwerker, Abstimmung mit den Sachverständigen und Behörden usw.) übernehmen. Teilweise erteilen die Versicherer ihren Vermittlern (v.a. den Ausschließlichkeitsvertretern) eine sog. Kleinschaden-Regulierungsvollmacht, so dass ein Segment der Schäden aus dem Bearbeitungsprozess der Schadenabteilung weitgehend herausgelöst ist und dieser nur noch das Controlling der betreffenden Schäden obliegt. In der Kraftfahrzeugversicherung sind die telefonische Schadenaufnahme und das aktive Schadenmanagement ausschließlich durch Call-Center-Teams des Versicherers oder eines Assisteurs ebenso anzutreffen wie die Rund-um-Sachbearbeitung in „Einfachschaden“-Teams, bei denen ein Schaden nicht mehr von einem Sachbearbeiter, sondern von allen Mitarbeitern des Teams bearbeitet wird. Schließlich finden sich Organisationsmodelle für eine zentrale und dezentrale Schadenregulierung oder Mischformen – je nach Komplexität eines Schadens oder Spezialität des Versicherungszweigs (z.B. Unfall- oder Rechtsschutzversicherung). Die Gründe für die unterschiedlichen Organisationsformen sind so vielfältig wie die Formen selbst. Abstrakt kann gesagt werden, dass insbesondere die Größe eines Versicherungsunternehmens und ggf. eines Versicherungszweigs, die Vertriebsstruktur und die Historie (z.B. kurz zurück liegende Fusion) des Unternehmens die Individualität der Organisationsstrukturen treiben und es keine allgemeingültigen Organisationskonzepte gibt.
Die Schadenregulierung in den Versicherungsunternehmen hat sich seit der Deregulierung des deutschen Versicherungsmarkts Anfang der 1990er-Jahre erheblich verändert. Die Anzahl der Versicherungsprodukte und ihrer Varianten hat sich vervielfacht, die Produktzyklen haben sich stark verkürzt. Die Vertragsbestände der einzelnen Produktgenerationen bestimmen indes die tägliche Arbeit in den Schadenabteilungen. Die Rechtsprechung zu den AVB und einzelnen schadenersatzrechtlichen Fragen (z.B. Unfallersatztarif, Restwertbörsen) hat deutlich zugenommen. Daneben haben allgemeine technische Entwicklungen (z.B. Smartphones, Tablets und nicht zuletzt die Fahrzeugtechnik bei Kraftfahrzeugen sowie moderne Reparaturmethoden, wie Smart Repair) dazu beigetragen, dass sich die Summe des notwendigen Wissens für einen Schadenmanager in einem Versicherungsunternehmen drastisch erhöht hat. Bei gleichzeitig neu hinzugekommenen Aufgaben im Rahmen etwa des aktiven Schadenmanagements und bei einem geänderten Kommunikationsverhalten der Kunden (deutliche Zunahme der Telefonie und von Emails) verlangt die Schadenregulierungstätigkeit nach einer entsprechenden technischen Unterstützung durch ein Schadensystem. Auch wenn immer mehr Versicherungsunternehmen die papierlose Bearbeitung auch im Bereich der Schadenbearbeitung eingeführt haben, gibt es nicht selten noch die in den 1980er-Jahren entwickelten proprietären Schadensysteme, die die Schadenbearbeitung mehr oder weniger gut unterstützen. Die Entwicklung wird allerdings verstärkt zu offenen, web-basierten Systemen gehen, bei denen alle intern an einem Schaden Beteiligten (Call-Center-Agent, Schadenmanager, Vertriebsaußendienst, Gutachter pp.) Daten in einer privaten Cloud (zur Vermeidung der mit einer öffentlichen Cloud verbundenen Sicherheitsrisiken) ablegen und auf derselben Softwareplattform arbeiten. Gleichzeitig gilt es, Schnittstellen zu entwickeln oder fortzuentwickeln (z.B. den GDV-Standard), die eine B2B-Kommunikation insbesondere zwischen den Versicherungsunternehmen und ihren Dienstleistern ermöglichen, bei der strukturierte Daten ausgetauscht werden. Denn auch im Bereich des Schadenmanagements wird die Industrialisierung der Versicherungswirtschaft fortschreiten und werden bislang manuelle Prozesse automatisiert. Vollständig automatisiert ablaufende Schadenbearbeitungsprozesse bestehen in der Krankenversicherung schon seit längerem, in der Kraftfahrtversicherung v.a. bei Schäden an der Fahrzeugverglasung. Die Entwicklung wird durch den Einsatz von Advanced Analytics und Big-Data-Technologie noch deutlich beschleunigt. Dabei ist zu erwarten, dass nicht nur manuelle Prozesse automatisiert, sondern auch fachliche Entscheidungen ersetzt oder Entscheidungen dem Sachbearbeiter nur noch final vorgeschlagen werden.
Damit wird deutlich, dass sich das Bild vom Schadenmanager und von seinen notwendigen Fähigkeiten weiter verändern wird. Es zeichnet sich die Vision ab, nach der bei mengengetriebenen Standardschäden primär serviceorientierte Schadenmitarbeiter den Schadenaufnahme- und -behebungsprozess einleiten und steuern und die anschließende Abwicklung weitgehend automatisiert abläuft, während bei komplexen oder Know-how-intensiven Schäden Schadenmitarbeiter mit tiefem Spezialwissen vergleichsweise wenige, aber für das bilanzielle Ergebnis des Versicherers bedeutsame Schadenfälle bearbeiten werden.
Literatur: El Hage, B./Jara, M., Schadenmanagement, in: Institut für Versicherungswirtschaft der Universität St. Gallen (Hrsg.), I-VW Management-Information, Sonderausgabe Ba. 6, St. Gallen 2003; Lünzer, M., Aktives Schadenmanagement in der Kfz-Versicherung: Grundlagen und Perspektiven, 2. Aufl., Saarbrücken 2012.
Autor(en): Dr. Jochen Tenbieg