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IFRS 4 – überarbeiteter Entwurf zur Bilanzierung von Versicherungsverträgen

1. Grundsätze des Bewertungsmodells

Das IASB hat in seinem jüngsten Standardentwurf die Grundsätze des Bewertungsmodells im Wesentlichen beibehalten. Wie bereits im Jahr 2010 vorgeschlagen, sind sämtliche Versicherungsverträge grundsätzlich nach dem sog. Bausteinansatz (building block approach) zu bewerten. Der Bausteinansatz besteht aus zwei Komponenten: (1) dem unternehmensspezifischen Erfüllungsbetrag und (2) der vertraglichen Servicemarge.

(Zu 1) Zunächst ist der unternehmensspezifische Erfüllungsbetrag als Barwert der zukünftigen Zahlungsströme (present value of the fulfilment cash flows) zu bestimmen, die aus der Abwicklung der Versicherungsverträge resultieren. Ausgangspunkt für die Ermittlung des Erfüllungsbetrags ist also die beste Schätzung der im Rahmen der Vertragserfüllung anfallenden zukünftigen Zahlungsströme, die – um den Zeitwert des Geldes zu reflektieren – mittels eines bezogen auf die Versicherungsverpflichtung laufzeit-, währungs- und liquiditätskongruenten Diskontierungssatzes abgezinst werden. Des Weiteren wird die Unsicherheit aus der Schätzung der zukünftigen Zahlungsströme in einer expliziten Risikoanpassung berücksichtigt.

Der unternehmensspezifische Erfüllungsbetrag resultiert somit aus der Saldierung des Barwerts der erwarteten künftigen Mittelabflüsse (Verpflichtungsbarwert) mit dem Barwert der erwarteten künftigen Prämienzuflüsse (Prämienbarwert). Aufgrund der Prämienvorauszahlung in der Versicherungswirtschaft wird sich im Vertragsablauf regelmäßig ein Erfüllungsrückstand einstellen und somit im Rahmen der Folgebewertung eine Verpflichtung zu passivieren sein.

Im Gegensatz zu Solvency II soll die Bewertung somit nicht zu einem Wert erfolgen, zu dem das Unternehmen die Verpflichtung an einen Dritten veräußern könnte. Stattdessen ist die Bewertung unter dem Blickwinkel der Vertragserfüllung durch das Unternehmen vorzunehmen.

(Zu 2) Im Zeitpunkt der Erstbewertung bei Vertragsbeginn wird der Prämienbarwert den Verpflichtungsbarwert i.d.R. übersteigen, da im Rahmen der Prämienkalkulation vorsichtigere Annahmen getroffen werden als bei der verpflichtungsseitigen Risikoadjustierung. Damit in einer solchen Konstellation kein anfänglicher Gewinn ausgewiesen wird (nil gain at inception), ist der unternehmensspezifische Erfüllungsbetrag um eine vertragliche Servicemarge zu erhöhen. Die vertragliche Servicemarge, die im ersten Standardentwurf noch als Residualmarge bezeichnet wurde, repräsentiert den aus der Vertragserfüllung erwarteten zukünftigen Gewinn des Versicherers, der nicht beim Erstansatz, sondern erst im Verlauf der Vertragserfüllung realisiert und entsprechend verteilt über die Deckungsperiode in der Gewinn- und Verlustrechnung ausgewiesen werden soll. Im umgekehrten Fall, d.h. sofern der risikoadjustierte Verpflichtungsbarwert den Prämienbarwert übersteigt, liegen erwartungsgemäß defizitäre Verträge vor. Der hieraus erwartete Verlust ist sofort aufwandswirksam zu erfassen.

Im Rahmen der Folgebewertung sind sämtliche Bewertungskomponenten, d.h. die Zahlungsströme, der Diskontierungssatz und die Risikoanpassung jeweils an die aktuellen Verhältnisse am Bewertungsstichtag anzupassen, wodurch konzeptionell eine (paritätische) Zeitwertbilanzierung vorgesehen ist.

2. Vereinfachtes Bewertungsmodell für kurzfristige Verträge

Für kurzfristige Verträge sieht das IASB weiterhin die Anwendung eines vereinfachten Bewertungsmodells (premium allocation approach) für die ausstehende Deckung unter dem Vertrag vor. Diese vereinfachte Methode kann angewendet werden, wenn die anfängliche Versicherungsdauer maximal ein Jahr beträgt oder wenn anzunehmen ist, dass diese Methode zu annähernd gleichen Ergebnissen wie der Bausteinansatz führt. In diesem Fall erfolgt die Bewertung analog der aus dem HGB bekannten Vorgehensweise für Beitragsüberträge.

Sofern aus einem Vertrag ein Verlust drohen sollte, ist er schon bei Vertragsabschluss mit dem unternehmensspezifischen Erfüllungsbetrag nach dem Bausteinansatz zu bilanzieren. Des Weiteren sind entstandene Schäden aus diesen Verträgen im Rahmen der Folgebewertung ebenfalls stets mit dem Erfüllungsbetrag nach dem Bausteinansatz (ohne vertragliche Servicemarge) zu bilanzieren.

3. Wesentliche Änderungen

Das IASB hat viele Kritikpunkte am ersten Standardentwurf aus dem Jahr 2010 aufgegriffen und entsprechende Änderungen vorgenommen. Die im zweiten Standardentwurf enthaltenen Vorschläge wurden zwischenzeitlich weiterentwickelt und verfeinert. Die wesentlichen Neuregelungen, die im Folgenden vorgestellt werden, geben den Diskussionsstand im Oktober 2015 wieder und betreffen die Reduktion der Ergebnisvolatilität, die Bilanzierung von überschussberechtigten Verträgen, die Darstellung in der Gewinn- und Verlustrechnung sowie die Übergangsvorschriften.

4. Verrechnung von Schätzungsänderungen aus Zahlungsströmen und der Risikoanpassung mit der vertraglichen Servicemarge

Der erste Standardentwurf sah vor, dass die im Zeitpunkt der Erstbewertung ermittelte vertragliche Servicemarge eingefroren und systematisch entsprechend der Vertragserfüllung über die Deckungsperiode aufgelöst werden sollte. Jegliche Anpassungen in den übrigen Bewertungskomponenten an die aktuellen Stichtagsverhältnisse wären dabei sofort erfolgswirksam zu erfassen gewesen.

Im Gegensatz zu den ursprünglichen Vorschlägen wird die vertragliche Servicemarge nun für die prospektive Rekalibrierung geöffnet (unlocking). Schätzungsänderungen der Zahlungsströme und der mit ihr verbundenen Risikoanpassung sollen – soweit sie die zukünftige Deckung betreffen – erfolgsneutral mit der vertraglichen Servicemarge verrechnet werden. Unterschiede zwischen der ursprünglichen Schätzung und den tatsächlich bereits eingetretenen Schäden bzw. Leistungen (erfahrungsbedingte Abweichungen) sind hingegen sofort erfolgswirksam zu erfassen.

5. Darstellung der aus Zinsänderungen resultierenden Bewertungseffekte im Sonstigen Ergebnis (Other Comprehensive Income – OCI)

Eine weitere Maßnahme zur Reduktion der Ergebnisvolatilität ist die Nutzung des OCI für die ergebnisneutrale Erfassung von aus Zinssatzänderungen resultierenden Bewertungseffekten. Diese dürfen analog zu den Neuregelungen des IFRS 9 „Klassifizierung und Bewertung von Finanzinstrumenten“, wonach z.B. Wertschwankungen bestimmter Schuldinstrumente im OCI auszuweisen sind, künftig erfolgsneutral im Eigenkapital erfasst werden. Die aus der Aufzinsung der Verpflichtungsposition resultierenden Zinsaufwendungen werden in der Gewinn- und Verlustrechnung auf Basis des bei Erstansatz verwendeten Diskontierungssatzes erfasst, sodass – bei Inanspruchnahme des Wahlrechts – die im OCI erfassten Beträge die kumulierte Auswirkung zwischen historischem und aktuellem Diskontierungssatz darstellen. Die im OCI erfassten Bewertungseffekte sind bei Ausbuchung der Verpflichtung erfolgswirksam aufzulösen.

6. Abbildung von überschussberechtigten Verträgen (variable fee approach)

Für überschussberechtige Verträge stehen grundsätzlich zwei Bewertungsmodelle zur Verfügung: für direkt überschussberechtigtes Geschäft der Variable-Vergütungs-Ansatz (variable fee approach), für das sonstige, nicht direkt überschussberechtigte Geschäft das oben beschriebene allgemeine Bewertungsmodell, erweitert um das Prinzip, den erfolgswirksamen Zinsaufwand auf Basis von Anschaffungskosten zu ermitteln. Dabei besteht ein Wahlrecht, stattdessen den erfolgswirksamen Zinsaufwand auf aktueller Basis zu bestimmen.

Direkt überschussberechtigtes Geschäft liegt vor, wenn bei Vertragsbeginn die folgenden drei Bedingungen erfüllt sind: Erstens legen die Vertragsbedingungen fest, dass der Versicherungsnehmer an einem definierten Anteil eines klar identifizierten Pools von Basiswerten beteiligt ist. Zweitens erwartet das Unternehmen, dem Versicherungsnehmer einen substanziellen Anteil der Erträge aus den Basiswerten zu zahlen. Drittens sollte ein substanzieller Anteil der Zahlungsströme, die das Unternehmen erwartet, an den Versicherungsnehmer zu bezahlen, mit den Zahlungsströmen aus den Basiswerten variieren.

Im Variable-Vergütungs-Ansatz werden im Unterschied zum normalen Bausteinansatz auch Effekte aus Veränderungen von ökonomischen Annahmen inkl. der Änderungen des Werts von Optionen und Garantien des Versicherungsvertrags mit der vertraglichen Servicemarge verrechnet. Dabei hat das Unternehmen ein Wahlrecht, unter gewissen Bedingungen Änderungen des Werts von eingebetteten Garantien in der Gewinn- und Verlustrechnung auszuweisen, sofern es zur Minimierung der Risiken aus diesen Garantien Derivate einsetzt und diese erfolgswirksam erfasst.

Auch wenn dies die Ergebnisvolatilität erheblich reduziert, ist damit das Problem eines Accounting-Mismatch bei einer ergebnisneutralen Bilanzierung von Kapitalanlagen zum Zeitwert (Fair Value through Other Comprehensive Income – FVOCI) oder einer Bewertung zu fortgeführten Anschaffungskosten noch nicht vollständig behoben.

Bei direkt überschussberechtigtem Geschäft, bei dem das Versicherungsunternehmen die Basiswerte zum jeweiligen Bilanzstichtag tatsächlich hält, wird der erfolgswirksame Aufwand für die Aufzinsung der versicherungstechnischen Verpflichtungen gleich dem erfolgswirksamen Zinsertrag der zugehörigen Kapitalanlagen gesetzt, die als Basiswerte für die Überschussbeteiligung fungieren (current period book yield approach). Der Unterschied zur Aufzinsung der versicherungstechnischen Verpflichtungen mit der aktuellen, für den IFRS 4 Phase II anzuwendenden Zinskurve ist im OCI auszuweisen.

Für direkt überschussberechtigtes Geschäft, bei dem das Versicherungsunternehmen die Basiswerte zum Zeitpunkt der Abschlusserstellung nicht hält, ist das normale, weiter oben beschriebene Bewertungsmodell anzuwenden.

7. Darstellung des Periodenumsatzes

Um der Kritik an den ursprünglichen Vorschlägen zum Ausweis des Periodenerfolgs Rechnung zu tragen, hat das IASB eine neue Definition des Ertrags aus Versicherungsverträgen (insurance contract revenue) eingeführt. Im Gegensatz zum Standardentwurf aus dem Jahr 2010, der in der Erfolgsrechnung ausschließlich die Darstellung der sich in der Periode realisierenden Gewinnmargen und von der Erwartung abweichender Beträge zuließ (summarized margin approach), ist der Periodenerfolg zukünftig auf Basis von Umsatzgrößen darzustellen (earned premium approach). Dabei ist zwischen einem versicherungstechnischen Ergebnis (underwriting result) und einem Kapitalanlagenergebnis (investment result) zu unterscheiden.

Der Ertrag aus Versicherungsverträgen der aktuellen Periode setzt sich aus der Summe der erwarteten Schäden und Betriebsaufwendungen, einem Anteil zur Tilgung der (anfänglichen) Abschlussaufwendungen, der Veränderung der Risikoanpassung sowie der Auflösung der vertraglichen Servicemarge zusammen. Mit diesem Ansatz wird der Fortschritt der Vertragserfüllung zum Ausdruck gebracht.

Demgegenüber stehen die tatsächlich eingetretenen Versicherungsleistungen, Verwaltungsaufwendungen einschl. erfahrungsbedingter Abweichungen und ein Anteil zur Amortisation der (anfänglichen) Abschlussaufwendungen. Schätzungsänderungen, die die zukünftige Deckung betreffen, sind erfolgsneutral mit der Servicemarge zu verrechnen, Schätzänderungen mit Bezug zum abgelaufenen Jahr sind erfolgswirksam in der Periode auszuweisen.

Das Kapitalanlagenergebnis umfasst die aus der Bilanzierung nach IFRS 9 resultierenden Kapitalanlagenerträge und die aus der Aufzinsung der Verpflichtungsposition entstehenden Zinsaufwendungen. Soweit Schätzungsänderungen beim Diskontierungssatz nicht im OCI erfasst werden, sind diese ebenso im Kapitalanlagenergebnis auszuweisen.

8. Erstanwendungszeitpunkt und Übergangsbestimmungen

Der Standardentwurf sieht keinen konkreten Zeitpunkt für das Inkrafttreten der Regelungen vor. Es sollen drei Jahre zwischen der Veröffentlichung des finalen Standards und der verpflichtenden erstmaligen Anwendung liegen. Nach dem aktuellen Zeitplan des IASB ist eine Veröffentlichung des finalen Standards nicht vor Mitte 2016 geplant, sodass die erstmalige Anwendung nicht vor dem 1.1.2020 zu erwarten ist. Eine frühere Anwendung ist zulässig.

Bei Erstanwendung der neuen Vorschriften sind entsprechende Übergangsregelungen zu beachten. Grundsätzlich sind sämtliche bereits bestehende Versicherungsverträge zum Erfüllungsbetrag anzusetzen. Außerdem ist eine vertragliche Servicemarge zu bilden, die sich aus der retrospektiven Anwendung der Neuregelungen ergibt und die Basis für zukünftige Gewinne aus dem Versicherungsbestand ist. Im Gegensatz zum Standardentwurf aus dem Jahr 2010 werden somit Bewertungsdifferenzen zur vorherigen Bilanzierung nicht ausschließlich in den Gewinnrücklagen erfasst. Beim Übergang auf die neuen Regelungen können jedoch einige Erleichterungen in Anspruch genommen werden, die die Schätzung der Zahlungsströme, die Festlegung des Diskontierungssatzes sowie die Risikoanpassung und die vertragliche Servicemarge betreffen. Damit ist es den Versicherern grundsätzlich möglich, die Gewinne aus den Verträgen des Bestands zum Umsetzungszeitpunkt über die verbleibende Deckungsperiode dieser Verträge verteilt zu vereinnahmen.

Da die Neuregelungen des IFRS 9 nach erfolgter Übernahme in das EU-Recht wahrscheinlich bereits zum 1.1.2018 anzuwenden sein werden, ergibt sich das Problem auseinanderfallender Erstanwendungszeitpunkte von IFRS 9 und dem neuen Standard zur Bilanzierung von Versicherungsverträgen (zukünftiger Versicherungsstandard nach IFRS 4). Zur Vermeidung von Bewertungsinkongruenzen, die beim Übergang auf den zukünftigen Versicherungsstandard entstehen, sieht der Entwurf die Möglichkeit einer Reklassifizierung und Nutzung der Fair-Value-Option für finanzielle Vermögenswerte vor. Voraussetzung ist, dass dadurch Bewertungsinkongruenzen vermieden oder wesentlich reduziert werden. Gleichzeitig ist eine zuvor ausgeübte Fair-Value-Option zurückzunehmen, wenn die Bewertungsinkongruenzen, die die Klassifizierung in früheren Perioden ausgelöst hat, nicht mehr bestehen.

Des Weiteren sollen Versicherer vor dem Erstanwendungszeitpunkt des zukünftigen Versicherungsstandards das Wahlrecht erhalten, die Gesamtanwendung des IFRS 9 bis zum Erstanwendungszeitpunkt des zukünftigen Versicherungsstandards zu verschieben (deferral approach). Unabhängig vom konkreten Erstanwendungszeitpunkt des zukünftigen Versicherungsstandards sollen die Neuregelungen des IFRS 9 aber spätestens ab dem 1.1.2021 verpflichtend anzuwenden sein. Soweit Versicherer den IFRS 9 aber bereits ab dem 1.1.2018 anwenden wollen, sollen diese das Wahlrecht erhalten, bestimmte aus der Anwendung des IFRS 9 entstehende Bewertungseffekte übergangsweise im OCI zu erfassen (overlay approach).

Literatur: Ellenbürger, F./Engeländer, S./Kölschbach, J., Der letzte Schritt zum IFRS für Versicherungsverträge: zum Exposure Draft ED/2013/7, WPg 2013, S. 813-820; Ellenbürger, F./Husch, R., Vorschläge zur Bilanzierung von Versicherungsverträgen nach IFRS (ED/2010/8), WPg 2011, S. 264-267; Hommel, M./Bielke, D./Zicke, J., Bilanzierung von Versicherungsverträgen nach ED/2013/7: Gewinnglättung dominiert Fair Value, KoR 2013, S. 404-412; Schweinberger, S./Horstkötter, M., Zur Bilanzierung von Versicherungsverträgen gemäß den Vorschlägen des ED/2010/8, KoR 2010, S. 546-553; Zimmermann, J./Schweinberger, S., Gestaltungsformen der Bilanzierung von

Autor(en): Dr. Ralf Widmann

 

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