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Controlling im Versicherungsunternehmen

1. Begriff Controlling

Versicherungsunternehmen setzen knappe Ressourcen zur Herstellung des Produkts „Versicherungsschutz“ ein. Dabei ist es von entscheidender Bedeutung, sämtliche Aktivitäten, die Ressourcen binden und verbrauchen, zielorientiert zu steuern. Innerhalb der Unternehmensführung müssen also Ziele und Mitteleinsätze geplant, diesbezügliche Entscheidungen getroffen, Umsetzungsmöglichkeiten ergriffen sowie eine Ergebniskontrolle und -analyse durchgeführt werden. In funktioneller Sicht kann Controlling damit in einer weiten Begriffsauffassung mit der Unternehmenssteuerung gleichgesetzt werden (engl. „to control“: lenken, steuern). In einer engeren Begriffsauffassung ist Controlling eine zentrale betriebswirtschaftliche Funktion im Sinne der Datenerfassung, -aufbereitung, und -analyse zur Entscheidungsunterstützung, die unmittelbar der Unternehmensführung dient. Dafür verbindet das Controlling Elemente des Rechnungswesens mit Elementen der Planung und Kontrolle der Ausgestaltung von Geschäftsfeldern und Unternehmensprozessen. In institutioneller Sicht ist das Controlling die Gesamtheit der Bereiche, Abteilungen und Stellen im Versicherungsunternehmen (bzw. im Versicherungskonzern), die mit den betreffenden Aufgaben zur Entscheidungsunterstützung betraut sind.

2. Controllingfunktionen und -bereiche

Das Unternehmenscontrolling ist auf die Ziele des Gesamtunternehmens auszurichten. Die traditionellen Zielsetzungen Sicherheit und Gewinn (meist wird von den Unternehmensverantwortlichen auch Wachstum als eigenständiges Unternehmensziel genannt) werden dabei in der modernen Zielformulierung zur „Unternehmenswertsteigerung“ zusammengefasst und ganzheitlich optimiert.

Aus Operationalisierungsgründen sind die Controllingaufgaben, die im Versicherungsunternehmen aus dem Ziel der Unternehmenswertsteigerung folgen, auf einzelne Controllingfelder herunterzubrechen (siehe Abbildung 1).

 

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Abb. 1: Elemente des Controllingsystems für Versicherungsunternehmen.

Auf der (obersten) Zielebene lassen sich zunächst das Risikocontrolling (Risikosteuerung; dient der Entscheidungsunterstützung hinsichtlich des Sicherheitsziels), das Gewinncontrolling, das Wachstumscontrolling und wiederum in ganzheitlicher Sicht das wertorientierte Controlling unterscheiden. Auf der Mittelebene sind das Programmcontrolling (bzw. Geschäftsfeldercontrolling) und das Prozesscontrolling zu differenzieren. Gegenstände des Programmcontrollings im Versicherungsunternehmen sind die Ausgestaltungen der Versicherungsgeschäfte i.e.S. (Risikogeschäfte), der Kapitalanlagegeschäfte und der sonstigen Dienstleistungsgeschäfte, die jeweils weiter bis auf die Ebene einzelner Steuerungs- und Verantwortungsbereiche des Managements (z.B. Versicherungszweige, Assetklassen) heruntergebrochen werden sollten. Im Prozesscontrolling werden die Abläufe in den o.a. Geschäftsfeldern gesteuert bzw. im Sinne der Entscheidungsunterstützung geplant und kontrolliert. Mit den Prozessen werden zugleich die verschiedenen betriebswirtschaftlichen Funktionen im Versicherungsunternehmen erfüllt. Einen Überblick über die Kernfunktionen und -prozesse im Versicherungsunternehmen mit Schwerpunkt auf das Versicherungsgeschäft i.e.S. gibt Abbildung 2, die eine generische Wertschöpfungskette darstellt. Die einzelnen Elemente dieser Wertschöpfungskette stellen wiederum differenzierte Aufgaben des (Prozess‑)Controlling dar.

 

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Abb. 2: Wertschöpfungskette im Versicherungsunternehmen.

Teilweise werden im Versicherungsunternehmen für einzelne, besonders herausgehobene Controllingbereiche eigene Organisationseinheiten gebildet. Als Beispiele können hier das Vertriebscontrolling und das Kapitalanlagencontrolling angeführt werden, die häufig separiert eingerichtet sind.

Von den laufenden Controllingaufgaben sind Aufgaben des Projektcontrollings abzugrenzen. So ist es häufig zweckmäßig, auch für wichtige Unternehmensprojekte – z.B. die Einführung bzw. Umsetzung der internationalen Rechnungslegung (IAS/IFRS), des Lebensversicherungsreformgesetzes, von Solvency II, der Insurance Distribution Directive (IDD), von M&A-Aktivitäten und/oder von größeren Umstrukturierungen im Versicherungsunternehmen – eigene Controllingstrukturen und -prozesse einzurichten, um den Projekterfolg zu fördern. In einer dynamischen Umwelt kann allerdings das Projektcontrolling für verschiedene, aufeinander folgende Unternehmensprojekte zu einer laufenden Controllingaufgabe werden.

Innerhalb des Unternehmenscontrollings sowie des Bereichscontrollings ist zu unterscheiden, welche Reichweiten der zu treffenden Entscheidungen angestrebt werden. Hierzu wird in strategisches und operatives Controlling gegliedert. Das strategische Controlling ist grundsätzlicher und gesamtunternehmensbezogener Natur sowie langfristig ausgerichtet. Währenddessen bezieht sich das operative Controlling auf die Umsetzung der Ziel- und Mittelentscheidungen in den einzelnen Unternehmensbereichen und ist kurz- bis mittelfristig ausgelegt.

3. Besonderheiten im Versicherungsunternehmen

Besondere Rahmenbedingungen in der Versicherungswirtschaft führen auch zu besonderen Herausforderungen für das Controlling im Versicherungsunternehmen.

Eine erste Besonderheit und zugleich ein wichtiger Einflussfaktor ist die Zufallsabhängigkeit der Schadenkosten. Das Versicherungsgeschäft, das durch den Transfer versicherter Risiken von Versicherungsnehmern auf das Versicherungsunternehmen geprägt wird, ist zufalls- und damit schwankungsanfällig. Die Planung und Lenkung der risikobehafteten Schadenkosten wird im Versicherungsunternehmen zu einer Herausforderung, da die Kalkulation von Eintritt, Höhe sowie Zeitpunkt der Schäden nicht treffsicher möglich ist. Erschwerend kommt hinzu, dass die Preise für die angebotenen Versicherungsdeckungen im Voraus festgesetzt werden und regelmäßig keine Möglichkeit der nachträglichen Anpassung zulassen. Auch im Controlling muss deshalb für die Zwecke der Entscheidungsunterstützung mit Wahrscheinlichkeitsverteilungen und deren Parametern gearbeitet werden, und bei den Kontrollaufgaben entstehen besondere Interpretationsbedarfe im Rahmen von Abweichungsanalysen, wenn etwaige Zielverfehlungen auf die Realisation von Zufalls-, Änderungs- oder Irrtumsrisiken zurückgeführt werden sollen.

Eine zweite Herausforderung liegt in dem hohen Anteil an Gemeinkosten, die den einzelnen Kostenträgern im Versicherungsunternehmen (Versicherungsprodukte, Kundengruppen, Geschäftsgebiete oder Vertriebskanäle) nicht direkt zugeordnet werden können. Dies führt zu einem komplexen System an Schlüsselungen, um eine Kostenzuordnung möglichst proportional zu den Verursachungsfaktoren vorzunehmen. Nur unter der Voraussetzung einer verursachungsgerechten Zuteilung der Kostenblöcke sind bspw. eine faire Preiskalkulation (unter Vermeidung von Quersubventionierungen mit der Gefahr damit verbundener Antiselektionseffekte) und eine akkurate Wirtschaftlichkeitskontrolle möglich. Kostenschlüsselungen sind aber stets Grenzen gesetzt, was die Verursachungsgerechtigkeit und im Übrigen auch was die Akzeptanz bei den betroffenen Verantwortungsträgern in den Geschäftsfeldern oder für die Unternehmensprozesse angeht – mit allen damit verbundenen Nachteilseffekten.

Als dritte wesentliche Herausforderung für das Controlling im Versicherungsunternehmen sind die zahlreichen Verbundeffekte zwischen den Geschäftsfeldern zu erwähnen. So gibt es bspw. erhebliche Verbundeffekte zwischen dem Versicherungsgeschäft und dem Kapitalanlagegeschäft. Des Weiteren werden oft Verbundeffekte zwischen verschiedenen Versicherungsprodukten, -zweigen und -sparten unterstellt (Stichwort „Einstiegsgeschäfte“). Vor diesem Hintergrund ist die separate Steuerung einzelner Geschäftsfelder möglicherweise nicht immer zweckmäßig. Allerdings ist auch sorgfältig zu prüfen, möglichst unter Einbezug geeigneter Messverfahren, ob und inwieweit solche Verbundeffekte auch tatsächlich vorliegen und nicht lediglich behauptet werden, um (vertriebs‑)politisch gewünschte (Preis‑)Gestaltungen zu untermauern oder in einzelnen Unternehmensbereichen wertvernichtende Ergebnisse zu rechtfertigen.

Viertens ist die Langfristigkeit des Versicherungsgeschäfts eine wesentliche Controllingherausforderung. Gerade in der Lebensversicherung gibt es Vertragsbeziehungen über mehrere Jahrzehnte, die innerhalb der vereinbarten Laufzeiten von Seiten des Lebensversicherungsunternehmens unveränderlich sind. Insbesondere sind Anpassungen der Preis/Leistungs-Relationen hier kaum möglich. Jedoch unterliegt die Erfüllbarkeit der Versicherungsverpflichtungen dynamischen Änderungsrisiken. Da die Bestände an langfristigen Versicherungsgeschäften aber selbst im Fall bereits eingetretener Änderungen während der Laufzeit nur noch schwerlich beeinflussbar sind, sind einem „Gegensteuern“ hier enge Grenzen gesetzt. Umso wichtiger ist die Etablierung eines Controllingsystems im Versicherungsunternehmen, das bereits frühzeitig, d.h. konkret z.B. bei der Risikoselektion sowie der Prämienkalkulation und -tarifierung, zur Einhaltung der Regeln einer wertorientierten Steuerung beiträgt.

Literatur: Broszat, B., Planung und Kontrolle von Betriebskosten in Versicherungsunternehmen, Frankfurt am Main [u.a.] 2001; Dernick, A., Steuerung und Führung im Unternehmen, 2. Aufl., Karlsruhe 2013; Farny, D., Versicherungsbetriebslehre, 5. Aufl., Karlsruhe 2011; Erichsen, J., Controlling-Instrumente von A – Z, 8. Aufl., Freiburg (Br.) [u.a.] 2012; Feilmeier, M./Kunz, R. (Hrsg.), Planung und Controlling, Karlsruhe 1997; Hallmann, T. et al. (Hrsg.), Steuerung von Versicherungsunternehmen: Grundlagen, Prozesse, Praxisbeispiele, 2. Aufl., Stuttgart, 2014; Hofbauer, W., Integriertes Controlling in Versicherungsunternehmen: Erfolgssicherung auch in harten Zeiten, Heidelberg 1999; Horváth, P., Controlling, 13. Aufl., München 2015; Jäger, U., Wertbewusstes Controlling: harte und weiche Faktoren integrieren, Wiesbaden 2003; Kraft, M., Kostentransparenz in Versicherungsunternehmen durch Deckungsbeitragsrechnungen; Karlsruhe 2008; Lengerer B. S., Strategisches Controlling in der Versicherungsunternehmung, München 1997; Maser, H./Wittmer, N., Bibliographie der deutschsprachigen Literatur zur Unternehmensplanung und zum Controlling in Versicherungsunternehmen, 5. Aufl., Lohmar [u.a.] 2004; Oletzky, T., Wertorientierte Steuerung von Versicherungsunternehmen, Karlsruhe 1998; Piontek, J., Controlling, 3. Aufl., München [u.a.] 2005; Schöffski, I., Controlling in divisionalisierten Versicherungsunternehmen: Ansätze zu einer strategischen und operativen Steuerung von Risikomarktsegmenten, Karlsruhe 1996; Schwarz, R., Controlling-Systeme: eine Einführung in Grundlagen, Komponenten und Methoden des Controlling, Wiesbaden 2002; Wagner, F./Warmuth, W., Wertorientierte Bepreisung im Versicherungsgeschäft, Karlsruhe 2005; Wallasch, C., Ein Controllingansatz unter besonderer Beachtung der Schnittstellen zum Informationsmanagement: dargest. am Beispiel von Versicherungsunternehmen, Frankfurt am Main [u.a.] 1999; Zietsch, D./Fürtjes, H.-T., Grundzüge einer wertorientierten Steuerung im Versicherungsunternehmen, Karlsruhe 2005.

Autor(en): Anja Schwinghoff, Prof. Dr. Fred Wagner

 

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