Emotionale Intelligenz wird für den Führungserfolg immer wichtiger - unter anderem weil die Belegschaften der Unternehmen immer heterogener werden. Versicherungsmagazin sprach mit Barbara Liebermeister (im Bild), der Leiterin des Instituts für Führungskultur im digitalen Zeitalter, Frankfurt am Main, hierüber.
Frau Liebermeister, wie wichtig ist emotionale Intelligenz für den Führungserfolg?
Barbara Liebermeister: Ungemein wichtig, obwohl kein Unternehmen bei uns anruft und sagt: Unsere Führungskräfte brauchen mehr emotionale Intelligenz.
Sondern?
Zum Beispiel "Unseren Führungskräften gelingt es nicht, ihre Mitarbeiter als Mitstreiter zu gewinnen".
Sie benennen also ein Problem?
Ja oder eine Herausforderung, vor der die Organisation steht. Analysiert man diese, dann zeigt sich jedoch oft, dass eine Ursache hierfür ist: Das Einfühlungsvermögen der Führungskräfte in ihre Mitarbeiter und das Bewusstsein für die emotionalen Prozesse, die in ihnen ablaufen, kurz die emotionale Intelligenz der Führungskräfte ist nicht genügend ausgeprägt.
Warum ist emotionale Intelligenz für den Führungserfolg so wichtig?
Weil die Mitarbeiter Menschen und keine in Serie gefertigten Maschinen sind. Entsprechend unterschiedlich sind ihre Biografien und Persönlichkeiten, ihre Werte und Bedürfnisse. Wenn alle Mitarbeiter gleich wären, bräuchten die Unternehmen ihre Führungskräfte nicht systematisch weiterzuentwickeln. Dann würde es genügen, ihnen, wie bei einer in Serie gefertigten Kaffeemaschine, eine Gebrauchsanweisung in die Hand zu drücken und zu ihnen zu sagen: "Wenn Ihr Probleme beim Führen habt, schaut da hinein." Anders ist es, wenn die Mitarbeiter und ihre Werte verschieden sind. Dann kann man den Führungskräften zwar Grundregeln zum Beispiel für das Führen von Mitarbeitergesprächen an die Hand geben, doch wie sie die Gespräche mit ihren Mitarbeitern konkret gestalten, das müssen sie in der jeweiligen Situation selbst entscheiden. Und genau dies erfordert eine große emotionale Intelligenz beziehungsweise ein hohes Einfühlungsvermögen.
Warum fällt es heute vielen Führungskräften so schwer, die Beziehung zu ihren Mitarbeitern adäquat zu gestalten?
Aus vielerlei Gründen. Zum einen sind die Belegschaften heterogener als früher. Zudem sind die Mitarbeiter selbstbewusster und fordernder, speziell in den Berufen und Branchen, in denen ein Mangel an qualifizierten Fach- und Führungskräften besteht.
Das sind die meisten.
Stimmt. Hinzu kommt: Inzwischen werden die Kernleistungen der meisten Unternehmen in oft bereichs- und zuweilen sogar unternehmensübergreifender Team- und Projektarbeit erbracht. Also haben die Führungskräfte nicht mehr einen so unmittelbaren Zugriff auf ihre Mitarbeiter wie früher. Zudem können sie, weil sich die Herausforderungen, Rahmenbedingungen und Kundenwünsche rascher ändern, zu ihnen seltener sagen "Tue dies, dann haben wir Erfolg". Sie müssen also verstärkt auf die Kompetenz und Loyalität ihrer Mitarbeiter vertrauen und sie an der langen Leine führen. Aufgrund all dieser Faktoren sind viele Führungskräfte gerade auf der unteren und mittleren Führungsebene heute hochgradig verunsichert. Sie haben zudem vielfach den Eindruck: "Die da oben, interessiert es nicht, wie es uns geht. Die lassen uns im Regen stehen."
Wie entsteht dieser Eindruck?
Auch aufgrund der aktuellen Diskussion über das Thema Führung. Durch sie geistert zum Beispiel seit Jahren der Begriff "Holokratie". Er bezeichnet eine nicht-hierarchische Organisationsform, bei der die Organisation aus einer Vielzahl selbstständiger Einheiten, so genannten Holons, besteht. Die Mitglieder der Holons haben keine Führungskräfte beziehungsweise Vorgesetzten. Sie treffen vielmehr im Rahmen der übergeordneten Ziele die Entscheidungen weitgehend selbst. Realisiert wurde diese Organisationsform zwar bisher fast nur in Non-Profit-Organisationen und kleinen Garagenfirmen. Trotzdem fragen sich viele Führungskräfte aufgrund solcher Diskussionen: Werden wir als Führungskräfte in den Unternehmen künftig überhaupt noch gebraucht? Dies auch weil viele Unternehmen in den letzten Jahren ihre Führungskräfteentwicklungsprogramme auf Eis legten.
Warum?
Unter anderem, weil ihnen oft selbst unklar war, wohin die Reise beim Führen geht. Das heißt, in einer Situation des Umbruchs, in der viele Führungskräfte selbst Halt und Orientierung benötigt hätten, wurde an sie, aus meiner Warte, ein falsches Signal gesendet.
Zeigt dies nicht auch einen Mangel an emotionaler Intelligenz auf der Top-Ebene von Unternehmen?
Zumindest ist es Indiz dafür, dass auch Top-Managern zuweilen ein Gespür dafür fehlt, was sie mit ihren Worten und Taten bei den ihnen nachgeordneten Führungsebenen bewirken. Dies soll jedoch keine allgemeine Managementschelte sein: Das würde dem Problem nicht gerecht.
Inwiefern?
Nun, an die Spitze größerer Unternehmen gelangen in der Regel nur Personen, die fachlich top-fit und brillante Analytiker sind; Personen zudem, die in der Vergangenheit schon oft bewiesen haben, dass sie Menschen führen und inspirieren können.
Warum fällt es ihnen trotzdem so schwer, die Mitarbeiter mitzunehmen?
Unter anderem, weil sie in der von rascher Veränderung und sinkender Planbarkeit geprägten VUKA-Welt selbst unter einem extremen Druck stehen. Nehmen Sie die Top-Manager der Automobilindustrie oder der Banken. In deren Haut möchte ich nicht stecken. Die wissen selbst nicht, wie es in ihren Branchen mittel- und langfristig weiter geht. Sie ahnen es bestenfalls. Trotzdem müssen sie ihre Unternehmen erfolgreich führen. Hinzu kommt: Haben sie eine vorläufige Strategie, dann wird diese immer häufiger durch so genannte schwarze Schwäne, also nur schwer vorhersehbare Ereignisse wie den Brexit, obsolet gemacht. Als fast schon normal erachte ich es da, wenn Top-Manager auch mal eine Entscheidung per E-Mail verkünden, von der sie selbst im Nachhinein sagen: Da hätte ich besser zum Telefonhörer gegriffen oder das persönliche Gespräch gesucht.
Wann ist die Gefahr solcher Fehlentscheidungen am größten?
In Stresssituationen und wenn man Mitarbeiter aus der Ferne führt.
Was meinen Sie damit?
Wenn ich mit einem Mitarbeiter oder Kollegen in einem Raum sitze, bekomme ich sozusagen automatisch mit, wie er tickt. Und wenn ich zu ihm etwas sage, spüre ich anhand seiner Reaktion unmittelbar, ob meine Botschaft ankommt und kann im Bedarfsfall eine Information nachschieben. Anders ist es, wenn die Personen, die mir unterstellt sind oder mit denen ich kooperiere, ganz wo anders arbeiten, so dass ich sie nur ein, zwei Mal pro Jahr treffe oder ihnen im Extremfall sogar noch nie persönlich begegnet bin. Dann ist es extrem schwierig, sich in den jeweils anderen hineinzuversetzen und zu erahnen, was meine Informationen oder Botschaften bei ihm bewirken, zumal dann die Kommunikation weitgehend per E-Mail oder via Mittler erfolgt. In dieser Situation befinden sich heute nicht nur Top-Manager, sondern zunehmend auch Führungskräfte auf der operativen Ebene.
Inwiefern?
Weil auch sie immer häufiger vor der Herausforderung stehen, mehr oder minder virtuelle Teams zu führen, denen nicht selten auch Personen angehören, deren disziplinarische Vorgesetzte sie nicht sind, wie externe Dienstleister oder Mitarbeiter anderer Abteilungen. Entsprechend gezielt müssen Führungskräfte die Kommunikation mit ihren Mitarbeitern und den Personen, mit denen sie kooperieren, gestalten. Deshalb ist es kein Zufall, dass das Konzept des "Mindful leadership", also des achtsamen Führens, aktuell auf eine recht große Resonanz stößt.
Was beinhaltet es?
Im Wesentlichen zielt es darauf ab, die gewohnten Reiz-Reaktionsmuster, die wir alle, also auch die Führungskräfte , verinnerlicht haben, zu durchbrechen. Statt reflexartig auf einen Impuls zu reagieren, geht es darum, zunächst einmal zu reflektieren "Warum möchte so reagieren?" und "Was würde eine solche Reaktion bei meinem Gegenüber vermutlich auslösen?", um sich dann bewusst für eine Reaktion zu entscheiden, die zielführender ist.
Das erinnert mich an den Spruch "besser erst mal eine Nacht darüber schlafen".
Der trifft es zum Teil auch. Denn gerade in Stresssituationen neigen wir Menschen dazu, in einen blinden Aktionismus zu verfallen, und der kann, wenn die Mitarbeiter ohnehin bereits verunsichert sind, verheerend wirken. Deshalb sollten eigentlich alle Führungskräfte ihre Fähigkeit zur Selbstreflexion beziehungsweise zur Reflektion ihres Verhaltens und Steuerung ihrer Gefühle systematisch und gezielt ausbauen, denn ohne diese Kompetenzen können sie ihre Wirksamkeit nicht erhöhen. Doch das allein genügt nicht.
Was ist noch nötig?
Mindestens ebenso wichtig ist es aus meiner Warte aktuell, dass die Top-Manager in den Unternehmen den Führungskräften auf den ihnen nachgeordneten Ebenen top-down nachhaltig vermitteln: "Wir brauchen Euch, denn Führung wird im digitalen Zeitalter und in der VUKA-Welt immer wichtiger." Sie müssen ihnen sozusagen den Rücken stärken, denn ohne ihre aktive Unterstützung gelingt den Unternehmen zum Beispiel die digitale Transformation nie.
Barbara Liebermeister leitet das Institut für Führungskultur im digitalen Zeitalter (IFIDZ), Frankfurt am Main (www.ifidz.de). Sie ist unter anderem Autorin des Buchs "Digital ist egal: Mensch bleibt Mensch - Führung entscheidet".
Autor(en): Versicherungsmagazin.de