Der 2. August 2022 ist ein besonderes Datum für den Vertrieb von Versicherungsanlageprodukten. Auch überschlagen sich die Versicherer, analog zur sonstigen Wirtschaft, mit Aussagen zu ihrer Nachhaltigkeit. Ein Blick zurück – 43 Jahre in die Vergangenheit.
Am 15. Oktober 1979 fand im Messe-Kongresszentrum in Köln ein besonderes Event statt. Bundesinnenminister Gerhart Baum war wohl der prominenteste der rund 230 Gäste, die einer Einladung von Dieter Wendelstadt, Vorstandsvorsitzender der Colonia Versicherung, heute Teil der Axa, folgten. Auch sonst enthielt die Gästeliste ein Who is who der damaligen Wirtschaft, Kölner Stadtgesellschaft, Bonner Bundespolitik und Ministerialbürokratie – und von Verbänden der Forstwirtschaft.
Anlass für die Zusammenkunft war die Vorstellung eines Buchs, herausgegeben vom Journalisten und Ehrendoktor Horst Stern, gemeinsam mit einem Team von Forstwissenschaftlern der Universität München und dem Forstdirektor des Nationalparks Bayerischer Wald. Der Titel: Rettet den Wald.
Das Wort Nachhaltigkeitsstrategie war noch nicht bekannt
Die umfangreich vertretene Colonia-Führungsriege kannte zu dieser Zeit weder die 17 Ziele der nachhaltigen Entwicklung der Welt noch das Kürzel ESG. Europäische Offenlegungs-, Taxonomie-, IDD- und MiFID II-Änderungsverordnungen waren noch nicht erfunden. Hauptgrund für das Engagement war nach einem Bericht des Kölner Stadt-Anzeigers (siehe Bild) vom 31. Oktober 1979 – der Journalismus war damals noch deutlich weniger hektisch von Echtzeit-Berichterstattungen des Internets getrieben –, als damals größter Waldbrandversicherer „zu einem geschärften Waldbewusstsein beizutragen“.
Heute würde man es als gelungenen Beitrag zum „G“ von „ESG“ – der Governance – zählen, dass der Versicherer gemeinsam mit der Schutzgemeinschaft Deutscher Wald und dem Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland eine Publikation fördert und den Verlag angewiesen hatte, einen Teil des Verkaufserlöses an die Schutzgemeinschaft Deutscher Wald „zur Betreuung und Aufklärung der Waldjugend“ abzuführen.
Stürme, Waldbrände, Borkenkäfer – das gab es früher schon
Anlässe für das fast 400 Seiten umfassende und reichhaltig bebilderte Werk waren erhebliche Sorgen um den Fortbestand und die Gesundheit des deutschen Waldes. „1972 warf in Niedersachsen ein Superorkan in nur drei Stunden die Kiefernholzernte von zehn Jahren zu Boden“, so Stern. „1975 brannten in Norddeutschland riesige Nadelholzareale nieder.“
Auch immense Schäden durch den Borkenkäfer waren damals bereits bekannt, und zwar durch eine in den Jahren 1944 bis 1951 anhaltende Plage in Mitteleuropa. Grund waren eine anhaltende Trockenheit und eine kriegsbedingte Vernachlässigung der Forstpflege, der 30 Millionen Festmeter Holz zum Opfer fielen, so Professor Peter Burschel.
Treibhausgasemissionen und Überdüngung
Hinzu kam eine Übersäuerung der Böden durch überhöhten Ausstoß von Schwefeldioxid, aber auch schädliche Treibhausgase wie Kohlendioxid, deren Eindämmung ein Hauptziel des Europäischen „Green Deals“ ist – bis 2050 soll Europa der erste klimaneutrale Kontinent werden. Zum Zeitpunkt der Entstehung des Buchs gab es bereits erste, wirksame Initiativen zur Begrenzung von Schadstoffemissionen.
Problematisch war zusätzlich der rasante Anstieg der Düngung einer zunehmend industrialisierten Landwirtschaft mit künstlichen Düngemitteln, die auch naturbelassene Flächen wie die auf knapp ein Drittel der deutschen Fläche zurückgedrängten Wälder in Mitleidenschaft zogen. Die aktuellen Proteste niederländischer Bauern gegen eine Begrenzung des Stickstoff-Einsatzes in der Landwirtschaft zeigt, wie aktuell die Probleme immer noch sind.
Nachhaltigkeit heißt nicht: keine kommerzielle Nutzung
Ein Hauptantrieb der Autoren des Buchs war – die Nachhaltigkeit. Diese schon Anfang des 18. Jahrhunderts von Forstwissenschaftlern erwähnte Prämisse durchzieht das Werk. „Nicht mehr Holz ernten als nachwächst“, liest man immer wieder. „Darin steckt, des langen Wachstumsalters der Bäume wegen, jeweils mehr Vorsorge für kommende als für gegenwärtige Generationen“, heißt es immerhin acht Jahre vor Veröffentlichung des Brundtland-Berichts.
Dabei sprechen sich die Autoren gar nicht gegen eine kommerzielle Nutzung der Wälder aus, im Gegenteil. Erst das kommerzielle Interesse an der Waldnutzung führt zu einem sorgsamen Umgang mit dessen Ressourcen, so das modern anmutende Credo. Und das kann anstelle der traditionellen Verwertung des Holzes in der Nutzbarmachung für das regionale Klima oder als Naherholungsgebiet für gestresste Bewohner der Ballungsgebiete sein. Allerdings erkannten die Autoren das Dilemma für die Waldbesitzer, rund ein Drittel Privatpersonen, dass sie schlecht Eintritt für Spaziergänge im Wald nehmen können. Also muss ein vitaler Wald als Gemeinschaftsaufgabe begriffen und vom Steuerzahler unterstützt werden, so die damals wie heute sinnvolle Lösung.
Ökologische und soziale Ziele nicht immer im Einklang
Ein weiteres Dilemma erkannte schon Horst Stern, das ab heute als Ausgleich zwischen ökologischen und sozialen Zielen auf Basis guter Unternehmensführung in sogenannten ESG-konformen Anlagen und Versicherungen mit den Kunden diskutiert werden soll. „In den letzten 20 Jahren stiegen die Lohnaufwendungen für Waldarbeiter, addiert man die gesetzlichen und privaten Sozialleistungen dazu, je Arbeitsstunde um über 1000 Prozent. Noch 1955 konnte man zum Beispiel in Bayern mit dem Erlös aus einem Kubikmeter Rohholz einem staatlichen Waldarbeiter 43,5 Arbeitsstunden bezahlen. 1975 reichte es gerade noch für 3,4 Lohnstunden.“
Hinzu kam für Stern die Beobachtung eines Marktpreisverfalls für Holz durch internationale Konkurrenz mit teilweise abweichenden, niedrigeren Standards im Umgang mit natürlichen Ressourcen. Das heutige Stichwort lautet Globalisierung.
Gender Pay-Gap
Wer sich die Rückseite der alten 50 Pfennig-Münze ansieht, sieht eine „Kulturfrau“. Deren Bedeutung als billige Arbeitskraft war enorm für die Wiederbepflanzung vieler abgeholzter und zerstörter Waldflächen, insbesondere nach dem Krieg. Aber sie stand auch für etwas, was wir heute als krassen „Gender Pay-Gap“ bezeichnen würden. Burschel drückte es damals so aus: „Die Wahrheit aber dürfte von jeher gewesen sein: Frauen machen es billiger“.
Ökologische und soziale Anforderungen stehen in einem erheblichen Spannungsverhältnis, bei dem es nicht die eine, richtige Lösung geben kann. Die heutige Antwort darauf ist, die Kunden nach ihren Nachhaltigkeitspräferenzen zu fragen, wodurch die Produktauswahl und Beratung in unterschiedliche Richtungen laufen können.
Greenwashing
Stern kannte noch nicht den Begriff Greenwashing. Das dahinterstehende Phänomen beschrieb er aber 1979 sehr klar: „Eine andere Variante der Waldschonung hat sich die Mineralölindustrie einfallen lassen. `Bäume gehören in den Wald´, schlagzeilt sie derzeit in ihrer Werbung. Durch Luftverschmutzung und Tankerkatastrohen mit dem Ruf eines Umweltsünders ersten Grades behaftet, versucht sie, sich durch Anpreisung der auf Erdöl basierenden Produkt ein grünes Image zu verschaffen.“
Das würde auch bei vielen Kunden verfangen, die beispielsweise glaubten, der Umwelt etwas Gutes zu tun, wenn sie angeblich holzfreies Papier kaufen. Das gibt es gar nicht, weisen die Holzwissenschaftler nach. Aktuell wird wieder diskutiert, ob die zahlreichen Nachhaltigkeits- und Corporate Social Responsibility-Siegel halten, was sie versprechen.
„Leider ist das Prinzip der Nachhaltigkeit noch keineswegs weltweit verbreitet“, klagt Burschel. Würde er heute noch einmal an einem solchen Buch mitarbeiten, das Fazit dürfte 43 Jahre später nicht anders ausfallen.
Autor(en): Matthias Beenken